Familie Haida

Auf dieser Seite ein paar sehr lesenswerte Erinnerungen!

1) Helmut Belitz (*1942) erzält "Meine Kindheit an der Wolga"
2) Auszüge aus F.Brandner "Ein Leben Zwischen Fronten
3) Neue Deutschland(4.12.2008): Die »152« hob zweimal ab und landete nur einmal
4) Helmut Banas
5) Gerhard Haida

 


Helmut Belitz (*1942) erzält "Meine Kindheit an der Wolga"

1.Wie alles begann

       Ungebetene  Besucher

Der Tag fing so gut an, es war ein sehr schöner warmer Herbsttag - der 22. Oktober 1946! Mein zwei Jahre älterer Bruder Manfred und ich spielten vor dem Haus in unserem Garten in Schönwalde bei Berlin-Spandau. Am frühen Vormittag fuhr vor unserem Haus ein grüner Militärlastwagen mit einem eckigen, hölzernen Fahrerhaus vor und hielt an. Auf der Ladefläche saßen zwei russische Soldaten, im Fahrerhaus neben dem Fahrer ein Offizier und überraschenderweise auch mein Vater. Die Soldaten waren mit Maschinenpistolen (MPi)  bewaffnet, der Offizier mit einer Pistole. Meine Mutter stürzte aufgeregt aus dem Haus, begleitet von unserer Oma, die bei uns  wohnte. Nachdem mein Vater und der etwas deutsch sprechende Offizier mit beiden gesprochen hatten, herrschte plötzlich helle Aufregung. Ich verstand nur, es sollten alle Möbel aufladen werden, denn wir müssten weit weg nach Russland! Wir hätten den Krieg verloren, deshalb müsse unser Vater als „Spezialist“ dort arbeiten. Die russischen Soldaten begannen auch sofort mit dem Aufladen von Stühlen und Tischen sowie weiteren Möbelstücken. Meine Mutter fing an Sachen und Geschirr in Koffer und Kisten zu verpacken. Die Oma begann uns Kinder zu waschen und zog uns an. Wir durften uns dann aber noch einige Spielsachen zum Mitnehmen aussuchen. Zwischen dem Offizier und meinem Vater gab es Streit über die Mitnahme bestimmter Möbel und vor allem über die Art und Weise ihrer „Verladung“. Nachdem dann endgültig feststand was mitgenommen werden sollte, wurde das weitere Aufladen von der Mutter beaufsichtigt. Nachdem das Meiste verstaut war, wollte mein Vater zu seinen nur wenige hundert Meter entfernt in der Nachbarschaft wohnenden Eltern. Der Offizier wollte das verhindern. Mein Vater ging jedoch unberührt von seinen Protesten einfach  los. Worauf der Offizier seine Pistole zog und schrie, wenn er weiterginge erschieße er ihn. Mein Vater lief  ungeachtet dieser Gefahr weiter und wir beiden Kinder heulend hinterher .Ich habe ihn damals sehr bewundert. Heute glaube ich, mein Vater wusste sehr genau, dass der Russe ihn nicht erschießen durfte. Er hatte ja sicher den Auftrag, ihn unversehrt an seinem unbekannten Bestimmungsort abzuliefern. Wir kehrten  also wohlbehalten mit unseren Großeltern zurück. Bald war auch das Notwendigste besprochen und geregelt. Unter vielen Tränen und langen Umarmungen verabschiedeten wir uns von beiden Omas und dem Opa, dann ging es los.  

       Der Abtransport

Die Mutter und wir Kinder mussten im Fahrerhaus Platz nehmen, die Männer fanden alle auf der Ladefläche zwischen dem Mobiliar irgendeine Sitzmöglichkeit. Dann startete der Fahrer, die lange Fahrt ins Ungewisse nahm ihren Anfang. Sie endete zunächst nach einer mehrstündigen Fahrt noch am gleichen Tag auf einem wilden „Bahnhof“ in einem Wald. Dort wartete bereits ein langer Zug mit Personen- und Güterwagen. Es waren schon viele Menschen dort und es herrschte überall Aufregung. Am ganzen Zug entlang standen viele russische Soldaten mit ihren Mpi´s mit runden Munitionsdepot, der so genannten „Shpagin“.Den bereits  anwesenden, anderen Familien war es wohl ähnlich ergangen wie uns! Alles Mobiliar wurde dann unter Aufsicht der Erwachsenen in Güterwagen verladen. Jede Familie wurde in ein Personen- Abteil verfrachtet, das vorerst nicht mehr verlassen werden durfte. Irgendwann verteilten die russischen Soldaten Pakete mit Esswaren, Süßigkeiten und Zigaretten. Mir ist vor allem die darin enthaltene, so lang entbehrte Schokolade sowie etwas gut schmeckendes, rotbraunes Fleisch in „goldenen“ Dosen, von dem ich heute weiß, dass es Corned Beef war, in Erinnerung geblieben. Nach 1 oder 2 Tagen warten in der Enge des Abteils fuhr der Zug dann los, niemand konnte sagen wohin. 

Anmerkung: Soviel zu Stalins „freiwilligen“ deutschen Spezialisten.

2.   Die lange Fahrt ins Ungewisse

Von der eigentlichen Zugfahrt ist nicht mehr allzu viel in meinem Gedächtnis haften geblieben. Eines hat sich mir allerdings fest eingeprägt, das Eingesperrtsein in der Enge des Abteils. Wir kamen uns vor wie in einem Gefängnis, die Stimmung unter den Erwachsenen wurde auch immer angespannter. Es wurde viel spekuliert und auch geweint. Wir Kinder haben ohne unser Spielzeug und ohne unsere Spielkameraden die Eltern sicherlich zusätzlich genervt. Kontakte zu anderen Kindern gab es ja nicht, die Abteile besaßen keine Verbindung untereinander. 
Jeder Halt des Zuges brachte dann wenigstens eine kleine Abwechslung. Es gab Essen und von der Lokomotive konnte warmes Wasser geholt werden. Die Mutter versuchte es dann mit etwas „Körperhygiene“, aber viel war es wohl nicht. Es gab aber auch nicht viele Gelegen-heiten sich besonders schmutzig zu machen. Manchmal hatten wir unterwegs auch Kontakt mit anderen Spezialistenfamilien oder später sogar mit Russen, die etwas verkaufen wollten. 

      Schusswechsel in Polen

Als der Zug dann durch Polen fuhr, wurde er mehrmals von polnischer Seite beschossen. Die russischen Wachsoldaten schossen zurück. Mein Vater warf uns Kinder dann schnell zwischen die Sitzbänke auf den Boden. Mutter und Vater legten sich immer flach auf die Bänke. Wenn die Ballerei vorbei war, wurde alles überprüft. Gott sei Dank war nie etwas Ernstes geschehen. Auch die anderen Familien im Waggon hatten alles gut überstanden. 

Um es vorweg zu nehmen, auf der Rückfahrt passierte ähnliches. Allerdings war der Zug diesmal nicht mehr so gut von den Russen bewacht wie bei der Hinfahrt. Es ging aber auch diesmal ohne größere Probleme ab.

 

       Fluchtversuche 

Bereits wenige Tage nach Beginn der Reise herrschte plötzlich eine große Aufregung, zwei junge Männer waren aus dem Zug geflohen. Sie tauchten allerdings später am Ziel der Reise wieder auf, sie waren eingefangen worden und wurden nun den Deutsch zur Abschreckung vor weiteren Fluchtversuch vorgeführt. Auch aus unserem späteren Aufenthaltsort versuchten junge Männer, als sie glaubten hinreichende Kenntnisse der russischen Sprache zu besitzen, nochmals eine Flucht. Aber auch sie wurden  bald wieder eingefangen und es folgte erneut die Abschreckungsprozedur.  

 

       Ein kaum zu glaubender Diebstahl 

Während der Fahrt durch Polen wurde einmal ein ganzer Güterwaggon mit Möbeln von unserem Zug geklaut. Er wurde einfach von den Polen vom übrigen Zug abgekoppelt und verschwand auf Nimmerwiedersehen, die armen Besitzer hatten ihr gesamtes Mobiliar verloren! 

 

     Spurwechsel und Umstieg in einen russischen Zug

Tage später an der Grenze zu Russland mussten wir in einen anderen, einen russischen Zug mit breiterer Spur umsteigen. Der war zwar bequemer, er hatte gepolsterte Bänke, aber die steckten voller Ungeziefer. Wir wurden nachts häufig gebissen oder gestochen. Die Eltern sagten es wären Wanzen. Sie wurden zwar intensiv, aber leider nicht sehr erfolgreich bekämpft. Die Fahrt nahm kein Ende, sie dauerte wohl fast zwei Wochen. Die Landschaft wurde immer einsamer und es wurde immer kälter. Der Schnee nahm immer mehr zu. Dann fuhren wir noch einmal in eine große Stadt hinein und über eine sehr imposante, riesige Stahlbrücke, die über einen breiten Fluss führte. Es hieß, die Stadt sei Kuibyschew und der Fluss wäre die Wolga. 

 

     Das Ende der Bahnreise

Noch am gleichen Abend endete die lange Fahrt auf einem kleinen Bahnhof mit einem hölzernen Bahnhofsgebäude mit sehr schönen, geschnitzten Verzierungen. Dies nahm ich allerdings erst viel später bei nachfolgenden Besuchen in  diesem Ort war. Die Bahngleise endeten hier, der Ort hieß „Krasnaja Glinka“. 

 

3.  Ankunft in Uprawlentscheski Gorodok

In Krasnaja Glinka mussten wir alle aussteigen, alles wurde ausgeladen und wir fuhren samt Mobiliar mit kleinen Autobussen und LKW weiter in einen nahe gelegenen kleinen Ort. Sein Name lautete Uprawlentscheski Gorodok, von den Deutschen bald mit „Upra“ abgekürzt. 

Offensichtlich war das unbekannte  Ziel der langen Reise erreicht! Die einzelnen Familien wurden von Russen in Zivil in Empfang genommen. Ein für uns zuständige Russe führte uns zu einem großen Steinhaus, zeigte auf den rechten  Aufgang und sagte in gebrochenem Deutsch, er sei hier der Kommandant, dort oben befände sich unsere künftige Wohnung, es sei ein Namensschild angebracht. An einer Wohnungstür im obersten Stock fand mein Vater dann auch einen Zettel auf dem unser Name stand!

      Das neue „Zuhause“ und seine Umgebung

Bei dem Haus handelte es sich um ein großes, graues Steinhaus mit vier Etagen  und mehreren Aufgängen. An den Fassaden befanden sich Balkone. Die uns zugewiesene Wohnung befand sich im ganz rechten Aufgang in der obersten Etage (Quartal IX., dom 45, Quartiera 37). An der gleichen Straßenseite, rechts neben unserem Haus, befand sich ein sehr ähnliches Gebäude, jedoch mit einem roten Farbton. Dieser Farbeindruck  rührte von den noch sichtbaren roten Mauersteinen her. Das Haus war noch nicht verputzt. Bei strengem Frost kroch durch die dadurch vorhandenen Mauerritzen die Kälte, was bei Ausfall der „Fernheizung“ unangenehm zu spüren war. Der linke, turmähnliche Giebel dieses roten Hauses besaß fünf Etagen. Der restliche Teil dieses Hauses hatte, wie auch das graue Haus, wieder vier Etagen. In diesen beiden Steinhäusern wurden zunächst nur Deutsche einquartiert. Am Eingang der Straße mit diesen beiden Häusern, befand sich an der Ecke auf der gleichen Seite der Straße ein weiteres großes Steinhaus. Dieses besaß einen L-förmigen Grundriss und hatte fünf Etagen. Im Erdgeschoss befanden sich kleinere Geschäfte, u.a. der Brotladen („Chlebladen“), dieses Gebäude erhielt daher den Namen „Magazin“. Darüber wohnten die russischen Führungskräfte des Werkes.

    Unsere neue Wohnung 

Als wir diese, unsere neue Wohnung erstmals betraten, überraschte uns die ungewohnte Akustik. Unsere Geräusche in den völlig leeren Räumen erzeugten einen so starken Hall, dass ich diesen  Eindruck nie mehr vergaß. Mein Bruder und ich veranstalten dann natürlich auch beim Erstürmen der Wohnung einen entsprechenden Radau. Wir hatten beide so etwas noch nie erlebt und tobten uns nun erst einmal ordentlich aus! Unter gegenseitiger Nachbarschaftshilfe wurden die Wohnungen unmittelbar nach der Ankunft mit dem inzwischen achtlos vor dem Haus im Schnee abgeladenen Mobiliar eingerichtet. Die Wohnung besaß zwei Zimmer, eine Küche, und ein „Badezimmer mit WC“. Das eine Zimmer ging auf die Seite zur Straße hinaus und hatte einen Balkon. Dieses Zimmer wurde als Wohnzimmer genutzt. Das zweite Zimmer befand sich auf der Giebelseite zum roten Haus und besaß keinen Balkon aber einen Alkoven. Dieses Zimmer wurde das gemeinsame Schlafzimmer. In dem Alkoven fanden unsere Kinderbetten ihren Platz. Die Wohnungen wurden zentral beheizt. Leider funktionierte diese zentrale Wärmeversorgung sehr oft nicht. Der Heizungskeller befand sich im ersten Aufgang auf der Rückseite unseres Hauses. Das Haus war zwar unterkellert, aber die „Keller“ dienten nur der Hausinstallation, sie waren so niedrig, dass man sich überall an den Rohren auf den Wänden und an der Decke stieß. Die Kellerzugänge befanden sich auf der Rückseite des Hauses. Auch mit der kontinuierlichen Wasserversorgung gab es ab und an Probleme, was besonders im Winter problematisch war, doch davon später. In der Küche befand sich ein in einer  Winkeleisenkonstruktion mit Mauersteinen gemauerter Herd. Er war mit Lehm verputzt und besaß vier Kochstellen, die mit ineinander passenden Eisenringen abgedeckt wurden. Zum Anfeuern  mussten diese zuvor mit einem Schürhaken entfernt und wenn das Feuer brannte, wieder aufgelegt werden. Dieser Herd und sein Haken sind mir im Gedächtnis haften geblieben. Der Herd wurde nämlich mehrfach durch uns „verziert“. Nicht gerade zur Freude unserer Eltern. Wir haben mit der Spitze des Schürhakens in die Lehmflächen zwischen den Winkeleisen die uns noch so vertrauten Hakenkreuze geritzt. Meine Mutter hat diese dann zwar schnell zu Fenstern mit Gardinen umgestaltet, aber für Eingeweihte, vor allem für spätere russische Besucher, war der Ursprung dieser „Zierde“ wohl leicht erkennbar. Eine elektrische Kochplatte mit einer Heizspirale gab es auch, sie brannte nur häufig durch und musste dann repariert  werden. Die Heizspirale wurde einfach an der durchgebrannten Stelle zusammen geflickt. Danach glühte sie zwar immer heller und die Sicherung fiel häufiger aus, aber auch diese wurden dann geflickt!  Vor den mitunter durchgeführten Kontrollen durch den russischen Hausverwalter mussten diese unerlaubten, elektrischen Geräte immer schnell verborgen werden.

    Hygieneaktion mit Entlausung

Nachdem wir uns in der neuen Wohnung etwas eingerichtet und ausgeschlafen hatten, ging es mit dem „Großreinemachen“ los. Ich erinnere mich hier vor allem an die gründliche, persönliche „Körperreinigung“- eine große Schruppaktion des gesamten Körpers. An diese schloss  sich sofort das „Entlausen“ an!  Hierzu wurde ein spezieller Läusekamm benutzt. Woher dieser so schnell beschafft wurde  weiß ich nicht, aber er war plötzlich da und wurde sogleich aufs Intensivste eingesetzt. Es handelte sich um einen kurzen,  sehr dünnen, hohen Holzkamm. Die Zähne auf den beiden Seiten waren unterschiedlich fein. Der Kopf des verlausten Delinquenten wurde über eine große, mit Wasser gefüllte Waschschüssel gehalten und Mutter kämmte erst mit der groben Zahnung und dann mit der feineren Zahnung die Haare Strähne für Strähne unter genauer Sichtkontrolle nach Nissen durch. Der Erfolg der Aktion konnte anhand der „gefangenen“ Beutetiere, die dann im Wasser zappelten, begutachtet werden. 

       Die Poliklinik in Upra

Sie befand sich zwischen der Straße mit den Steinhäusern und der deutsche Siedlung mit den vielen schönen Holzhäusern. In dieser Poliklinik wurden die kleineren Zipperleiden und Verwun-dungen behandelt. Hierher musste man auch  zum Zahnarzt!  Vor einer Behandlung dort wurde man aber gewarnt. Personal und Einrichtung seien furchtbar - hieß es! Der Bohrer soll noch mit einem Fußpedal betrieben worden sein! Ich brauchte dies alles nie auszu-probieren! Bei ernsteren Erkrankungen musste man in ein Krankenhaus nach Bessemjanka oder sogar nach Kuibyschev. Doch hierrüber später etwas ausführlicher.

 

4.   Der erste Winter in Upra

Allmählich  lebten wir uns ein. Unser Vater musste bald, wie die anderen deutschen Männer auch, zur Arbeit ins so genannte „Sawod“ gehen. Diese Werksanlage war für ein geplantes Wasserwerk errichtet, aber nie dafür genutzt worden. Das „Werk“ bestand zunächst nur aus mehr oder weniger leeren Hallen. Wie ich heute weiß, soll es zuvor von amerikanischen Arbeitern und Ingenieuren, die den Russen halfen Waffen, vor allem Mpi´s zu produzieren, benutzt worden sein. Es musste also als erstes  wieder umgebaut und eingerichtet werden. 

Damit begannen also die deutschen Triebwerksspezialisten ihre Tätigkeit in Russland!  Für den Ausbau Werkes wurden überwiegend die in Deutschland von den Russen demontierten Maschinen und Einrichtungen sowie das ebenfalls entwendete Mobiliar verwendet. Alles stammte also aus den Betrieben, in denen die Väter bis zu ihrer Deportation gearbeitet hatten.

In diesem Werk wurden nach seinem Auf- und Ausbau von den deutschen Spezialisten auf der Basis mitgebrachter deutscher Triebwerke (samt Unterlagen) von Junkers und BMW und unter zunehmender Mitwirkung russischer Mitarbeiter, Triebwerke für russische Flugzeuge entwickelt, erprobt und  gefertigt. Wir Kinder fingen langsam an unsere nähere Umgebung zu erkunden und begannen uns mit den Nachbarkindern anzufreunden. Dies war nicht ganz einfach, denn es war sehr schnell eiskalt geworden. Der Winter hatte endgültig Einzug gehalten und so war der Aufenthalt im Freien jeweils immer nur kurz. Für längere Aufenthalte fehlte uns die notwendige, wärmende Kleidung. In den kleinen Wohnungen fehlte der Raum zum Spielen. Warm war es ja leider auch nicht immer!

       Erster Winter - erste Kleidersorgen!

Diesen russischen Winter muss man erlebt haben. Im strengsten Winter, er hatte schon vor unserer Ankunft eingesetzt, herrschten im November 1946 Temperaturen weit unter minus 45°C, Es war allerdings eine trockene Kälte, die bei Windstille und Sonnenschein nicht so furchtbar war, wie es klang. Die für solch strenge winterliche Temperaturen erforderliche Kleidung war natürlich nicht vorhanden. Sie konnte erst nach und nach beschafft oder angefertigt werden. So kam es oft vor, dass wir nicht ins Freie konnten, weil die wenige Kleidung gerade wieder gewaschen war und erst trocknen mussten. Für uns Kinder opferte Vati dann einen seiner Wintermäntel sowie eine Jacke. Aus diesen zauberte uns unsere Mutter auf ihrer „Singer“ zwei dick gefütterte Kindermäntel mit Pelzkragen. Mit warmen Pullovern, gestrickten Unterhosen und Socken konnte man es dann draußen ertragen. 

Wir erkundeten unseren neuen Wohnort also erst einmal von Drinnen durch die gefrorenen Fensterscheiben. Sie waren mit dicken, wunderschönen Eisblumen verziert. 

Nach dem späteren Erwerb von „Tschapkas“ (Eine Fellmützen, deren Rand mit den daran befindlichen  Ohrenklappen herunter gelassen werden konnten), Lederstiefeln bzw. „Valenki“ (Filzstiefel mit langem Schaft) für jeden von uns konnte man aber bald die winterlichen Temperaturen längere Zeit ertragen. So gekleidet trotzten wir dann doch noch dem harten Winter seine durchaus auch angenehmen Seiten ab.Die Umgebung des Ortes erwartete uns mit tief verschneiten Wäldern sowie mit wunderschönen, vor allem wirklich sehr  weißen (!) Schneelandschaften. Bei strahlendem Sonnenschein ein wirklich traumhafter Anblick. In den späteren Jahren auch eine Einladung zum Skilaufen!

   Die traumhafte Winterlandschaft bei Upra

In der Stadt und auf den Feldern lag so viel Schnee, wie ich es nach der Rückkehr nach Deutschland nie wieder erlebte. Der Wind formte meterhohe Schneewehen. In diese hinein konnte man wunderbar „wärmende“ Höhlen bauen und darin spielen.Infolge des vielen Schnees war der ohnehin geringe Autoverkehr im Winter beschwerlich. Die Strassen mussten ständig erneut mit schweren Kettenfahrzeugen vom Schnee geräumt werden. Die Russen benutztendann große Pferdeschlitten mit denen Transporte aller Art problemlos erledigt werden konnten.Natürlich dienten diese auch der Beförderung von Personen.

       Achtung: Gefahr durch Erfrieren!

Kam zu der stets eisigen Kälte im Winter   noch ein scharfer Wind hinzu, musste   man höllisch Acht geben, wollte man sich nichts erfrieren. Im ersten Winter wäre mir dieses Missgeschick beinahe widerfahren. Wir hatten länger Zeit im tiefen Schnee gespielt, als mich plötzlich eine stämmige Russin ergriff und mit den kräftigen Armen an ihren Busen drückte. Mit dem Kopf stieß sie mich anschließend in den Schnee. Dabei rieb sie mir kräftig die Ohren und die Nase mit Schnee ab. Ich habe mit Händen und Füßen gestrampelt, geschrien, mich aber letztlich nur ergebnislos gewehrt. Nach einer Weile ließ sie von mir ab und gab mich frei. Ich rannte sofort nach Hause. Die Frau hatte meine langsam glasig werdenden Ohrläppchen und Nasenspitze entdeckt und mich vor den drohenden Frostschäden bewahrt. Ich bin ihr nachträglich äußerst dankbar dafür. Damals hatte ich nur schreckliche Angst vor dieser Russin und ihrem unbekannten Tun. Die „Nazipropaganda“ hatte uns ja ein völlig falsches Bild von den russischen Menschen vermittelt. Gerade wir  Kinder aber wurden hier in Upra oft eines besseren belehrt.Hinterher, als ich heulend zu Hause eintraf, erklärte mir meine Mutter das Geschehene. Das Glasigwerden der Gliedmaßen ist ein untrügliches Anzeichen für beginnende Erfrierungen. Künftig behielten wir uns deshalb beim Spielen möglichst gegenseitig im Auge, um rechtzeitig auf einen eventuellen Ernstfall reagieren zu können. 

In einem der späteren Jahre in Upra habe ich dann miterlebt, wie es ist, wenn einem die Gliedmaßen erfroren sind. Mein Vater nahm mich einmal mit zu einem Krankenbesuch ins Krankenhaus nach Bessemjanka oder Kuibyschev. Dort lag schon längere Zeit ein mit unserer Familie befreundeter, deutscher Konstrukteur. Seine beiden Hände waren erfroren. Die Vorgeschichte zu diesem Unglück schilderte uns unser Vater so: Nach einem feucht – fröhlichen Abend im Klub mussten zwei Kollegen den späteren Verunglückten nach Hause begleiten. Sie nahmen ihn zwischen sich in die Mitte, jeder legte sich einen seiner Arme über die Schulter und so brachten sie ihn schwankend heim. Dabei bemerkten sie nicht, dass seine Handschuhe durch die hohen Schneewänden an den Seiten des Fußweges abgestreift worden waren und so die nackten Hände lange Zeit dem eiskalten Schnee ausgesetzt waren. Beide Hände hatten starken Frost abbekommen. Der Verunglückte lag im Bett, seine beiden Arme waren an einem Gestell hochgebunden, die Reste seiner verbliebenen Fingerstümpfe sahen ganz schwarz aus. Man ließ sie praktisch „abfaulen“. Später mussten sie teilweise amputiert werden! Nachdem alles abgeheilt war, lies er sich nach eigenen Vorgaben im Werk Finger- Prothesen aus Metall anfertigen und konnte so die Hände wieder etwas benutzen. 

      Erfahrung mit Wolle fressenden Schafen

Ein weiteres unvergessenes Erlebnis aus dem ersten Winter war der schmerzliche Verlust einer meiner neuen Fäustlinge. Parallel hinter dem grauen Steinhaus befanden sich in größerem Abstand flache Holzgebäude oder Schuppen in denen Schweine und Schafe untergebracht waren. Dort spielten wir Kinder des Öfteren. Meine Mutter hatte mir aus Schafwolle Fausthandschuhe gestrickt. Die Wolle hatte sie russischen Frauen auf dem Rinok abgekauft. Als wir im Winter beim Spielen wieder einmal diesen Stall aufsuchten um uns aufzuwärmen, stand ich mit den Handschuhen in der einen Hand vor der brusthohen Holzwand eines Verschlages. Ein Schaf kam an die Bretterwand, ich wollte es streicheln. Aber es schnappte es sich meinen Handschuh und fraß ihn vor meinen Augen seelenruhig auf. Durch mein Geheule lies es sich in keiner Weise beeinflussen, der Handschuh war futsch!

      Eingeschneit

Die Menge an Schnee nahm mitunter völlig ungeahnte Ausmaße an. Ich erinnere mich an eine ganz schlimme Nacht in der so viel Schnee gefallen war, dass die Männer die  Haustür morgens nicht öffnen konnten. Der sonst stets  geräumte Weg von der Haustür zur Strasse war über Nacht bis weit oberhalb der Türklinke zugeschneit. Die Männer mussten durch eine Wohnung im 1. Stock ins Freie klettern und dann die Tür und den Weg zur Straße frei schaufeln. Erst danach konnten sie zur Arbeit ins Werk gehen. Die Straßen im Ort wurden üblicherweise mit sehr großen Räumfahrzeugen auf Ketten geräumt. Der Schnee wurde von ihren großen Schaufeln an den jeweils rechten Straßenrand geschoben. So entstanden  beiderseits der Straße teils meterhohe Schneewände. Die Straßen wurden im Laufe des Winters dadurch zusehends schmaler. Mit Beginn des Frühlings erreichten sie aber schnell wieder ihre frühere Breite.

       Rodeln, russische Schlitten und Skier

Auf unserer Straße, die in Richtung zum roten Haus leicht abschüssig war, konnte man prima mit den Schlitten rodeln. Wir waren froh, dass unser Vater daran gedacht hatte unseren Schlitten von zu Hause mitzunehmen. Aber wir fuhren auch mit dem selbst gebastelten „Schlittengestell“ der russischen Kinder.Es gab zwischenzeitlich doch ab und zu schon schüchterne Versuche zur gegenseitigen Kontaktaufnahme. Nicht immer ging dies problemlos und friedlich aus, zunehmend öfter aber spielten wir auch miteinander! Dieser „Schlitten“ der russischen Kinder wurde aus ca. 10mm Rundstahl hergestellt. Der Stahl wurde zu einem etwa 1 ½ bis  2 Meter langen U-förmigen Gebilde geformt.  Knapp einen Meter vom offenen Ende der beiden parallel liegenden Rundstähle wurden beide mit leichtem Bogen im rechten Winkel nach oben gebogen und in Armhöhe der runde U-Bogen nochmals etwas nach schräg hinten abgewinkelt. Das so entstandene Gefährt ergriff man mit beiden behandschuhten (!) Händen oben an diesem Bogen, stellte sich  auf eine der beiden „Kufen“ und stieß sich mit dem anderen Bein vom Untergrund ab. Hatte man die gewünschte Geschwindigkeit erreicht, stellte man das zweite Bein auf die andere Kufe und ab ging die Post. Da die Straßen nicht gestreut wurden und manchmal spiegelblankes Eis auf ihnen war, erreichte man beachtliche Geschwindigkeiten. Ohne Handschuhe, konnte man sehr schnell an dem Drahtgestell mit den bloßen Fingern anfrieren. In den späteren Jahren bekamen wir dann auch auf dem „Rinok“, dem russischen Bauernmarkt,  erworbene Skier geschenkt. Die Skistöcke dazu mussten aus geraden Stöcken selber hergestellt werden. Unter Anleitung der Erwachsenen unternahmen wir schöne und oft auch lange Skitouren. Später liefen wir immer öfter auch allein.

Die Wanderungen führten uns vor allem in die langen Schluchten, die zur Wolga hinunter führten. Der Ort Upra lag ja zum teil mehr als hundert Meter oberhalb des Wolgaufers.

Von den Steinhäusern  liefen wir oft zur Schlucht hinter der so genannten Finnensiedlung.

In dieser Siedlung lebten ebenfalls viele deutsche Familien in von Finnen als Reparationsleistung gelieferten kleinen Holzfertig-Häusern. Hier hatten wir auch eine kleine Skischanze aus festgestampftem Schnee errichtet. Auf ihr übten wir das Skispringen. 

Einmal brachte mir das eine blutige Nase ein. Unsere russischen „Freunde“ hatten auf die vordere Kante der Schanze unterm  Schnee versteckt, Mauersteine gelegt. Ich sprang als einer der Ersten. Die Steine stoppten die Fahrt so plötzlich ab, dass ich  stürzte. Ich landete mit der Nase auf  einer Skispitze. Eine Blutspur hinterlassend, fuhr  ich heulend nach Hause. Meine Nase schwoll stark an und schmerzte lange danach noch immer heftig. Bei längeren Ausflügen in die umliegenden Wälder konnte es durchaus geschehen, dass man aus nicht allzu weiter Ferne vom lauten Geheul eines Wolfsrudels  begleitet wurde. Wir veranstalteten dann einen Höllenlärm, nahmen einen Skistock auf die Schulter und sputeten uns, damit wir schnell nach Hause in Sicherheit kamen. Von den Wölfen erzählten die Erwachsenen auch, dass sie in den ganz strengen Winternächten im unten an der Wolga gelegenem Fischerdorf Schafe aus den Ställen gerissen hätten. Sie sollen auch versucht haben, an den Inhalt frischer Gräber zu gelangen. Aus unseren Erfahrungen mit Wölfen kann ich nicht verstehen, wie heute bei uns diese Tiere als für Menschen harmlos hingestellt werden.

       Schlittschuherwerb

In Upra gab es auch eine Eisfläche zum Schlittschuhlaufen. Wir drängelten unseren Vater daher solange, bis er endlich begann sich nach Schlittschuhen für uns umzusehen. Für meinen Bruder konnte er bald welche auf dem Rinok erstehen. Für mich war es wegen der Größe schon schwieriger. Aber dafür war ihr Kauf wesentlich interessanter! Er vermittelte einen kleinen Einblick in die „Feierabendgestaltung“ einer russischen Familie. Eines Abends im 2. Winter nahm mein Vater mich an die Hand und wir besuchten den im Erdgeschoß unseres Aufganges wohnenden Kommandanten „Iwanow“. Die beiden hatten schon ein etwas vertrauteres Verhältnis. Es kam nämlich nicht selten vor, dass Kommandant Iwanow meinen Vater abends vor der Haustür abfing und mit den Worten: „Genosse Otto, Deine Jungens…“ begrüßte. Dann wurde unser Vater über die neuesten Streiche seiner Jungen aufgeklärt. 

So z. B. wenn wir wieder einmal über die Feuerleiter an der Giebelseite unseres Hauses das Dach erklommen hatten und von dort die Leute auf der Straße mit kleinen Lehmkügelchen, die wir auf Haselnuss-Ruten spießten, beschossen.  Mir ist aber keine unangenehme  Konsequenz aus diesen „Rapporten“ des Kommandanten in Erinnerung geblieben.

Iwanows Familie, zu der neben dessen Ehefrau auch seine Großmutter gehörte, saß in der sparsam möblierten Stube. Gemeinsam knabberten  sie „Semetschki“. Es sind dies getrocknete,  meist auch noch geröstete Sonnenblumenkerne. Hierzu später Genaueres.

In der einen Zimmerecke befand sich schon ein etwa 30cm hoher Berg von ca. 50cm Durchmesser mit bereits von ihnen ausgespuckten Schalen. Dem ranzigen Geruch und der Größe des Berges nach zu urteilen, wurde diese Tätigkeit bereits über längere Zeit  betrieben. Abends wurden die im Zimmer verstreuten Schalen scheinbar einfach auf diesen Haufen gefegt. Nach einigem harten Verhandeln, bei dem ich inzwischen recht gut russisch radebrechend, als Dolmetscher fungierte, hatten wir die Schlittschuhe für mich erstanden. Es waren so genannte „Holländer“ mit vorne ringförmig hochgebogener Kufe. Diese Schlittschuhe wurden mit Riemen an den Valenki mehr oder weniger gut festgeschnallt. Sie haben mir in Upra die letzten Jahre gute Dienste geleistet.

      Wasserversorgung mit Problemen

Wie bereits erwähnt, gab es mitunter auch bei der Wasserversorgung im Haus Pannen. 

Für den Notbehelf gab es daher an der Straße in Richtung zum roten Haus eine handbetriebene Schwengelpumpe. Hier konnte man bei Bedarf seine Eimer füllen und dann nach Hause schleppen. Diese Aufgabe fiel dann meinem Bruder und mir zu. 

Im Winter gab es allerdings Probleme. War die Pumpe längere Zeit nicht betrieben worden, dauerte es mitunter sehr lange bis das Wasser wieder floss. Spritzte man dann beim Füllen der Eimer viel mit dem Wasser herum, konnte es geschehen, dass die Valenki zwischenzeitlich auf dem Boden angefroren waren. Man kam dann erst einmal nicht von der Stelle. Wollte man dies vermeiden, musste man sich also ständig bewegen!

 

       Russische Haushalts-Kühltechnik

Im Laufe des Winters musste auch der Vorrat für das „Kühlmittel“ des russischen „Kühl-Schrankes“ angelegt  werden. Hierzu bediente man sich einer tiefen Grube gegenüber dem Haus, die in der frostigen Jahreszeit mit Schnee und Wasser aufgefüllt wurde. War alles tief durchgefroren, wurde zum Ende des Winters die Eisschicht mit einer dicken Schicht Sägemehl abgedeckt. Benötigte man im Sommer Eis, wurde das Sägemehl beiseitegeschoben und entsprechende Eisstücken herausgesägt oder geschlagen. Anschließend wurde die Grube wieder mit den Holzspänen abgedeckt. Im Laufe des Sommers taute natürlich die obere Eisschicht leicht an. Das nun feuchte Sägemehl verhinderte jedoch durch den kältespendenden Verdunstungs-Effekt das weitere Schmelzen des Eises. Mittels dieses einfachen Verfahrens stand das ganze Jahr über Trockeneis zur Verfügung. 

Das Trockeneis kam in ein dicht ausgekleidetes Fach oberhalb des zu kühlenden Gutes in den aus Holz gefertigten Eisschrank, ein russische „Kühlschrank“ ohne Strom!

Ein weiteres, mit dem nahenden Ende des langen Winters zusammen hängendes, unvergessliches Schauspiel war immer wieder der Eisgang auf der Wolga. Der Fluss fror trotz seiner starken Strömung so dick zu, 50 cm und mehr waren keine Seltenheit, dass sogar  schwere Lkws ihn befahren durften. Umso heftiger ging es dann aber zur Sache, wenn das Eis im Frühjahr aufzutauen begann. Mitunter wurde auch durch gezielte Sprengungen mittels ins Eis eingebohrter Dynamitpatronen der Vorgang zu einem bestimmten Termin herbei geführt. So sollte  der Fluss schneller wieder beschiffbar werde. Im Eis entstanden zunächst unter seltsamen Singen und Klirren sehr lange Spannungsrisse. Allmählich entstanden dann größere Eisschollen. Gerieten diese durch die starke Strömung in Bewegung, schoben sie sich  teilweise übereinander. Unter mächtigem Getöse türmten sich riesige Eisberge auf. Durch den Druck des stark nachdrängenden Wassers wurden diese Barrieren mit lautem Knall wieder aufgesprengt. Der nächste Damm bildete sich jedoch schon bald erneut. Dieser Kampf der Naturgewalten war ein sehr dramatisches Schauspiel, wir schauten dem gerne und sehr lange interessiert zu. Einmal wurde sogar aus diesem Anlass ein Ausflug durch die Schule zum Sanatorium veranstaltet.

       Das Frühjahr: Anderes Wetter – neue Probleme!

Den ganzen Winter über hatte der Schnee eigentlich nur zugenommen. Im Ort waren durch das ständige Räumen und Zusammenschieben der Schneemassen die  Straßen durch hohe Schneewände eingegrenzt. So auch in unserer Strasse. Als dann Ende März, Anfang April die kurze, aber wirkungsvolle Tauwetterperiode einsetzte, herrschte am Tage nur noch ein einziger Matsch. Dieser gefror des Nachts zwar sofort wieder, aber am nächsten Tag ging das Theater von neuem los. Es entstanden auf den Wegen und Straßen ganze „Seen- und Fußlandschaften“. Die nicht befestigten Straßen hatten sich mittags bereits wieder in wahre Landschaften aus Schlammpfützen  verwandelt. Das Schmelzwasser auf der abschüssigen Straße vor unseren Häusern bildete unter den Schneewänden am Straßenrand schnell dahin schießende Sturzbäche. Diese traten jedoch nur an bestimmten Stellen sichtbar zu Tage. Wir Kinder hatten einen neuen Zeitvertreib! Kleine, selbst geschnitzte Schiffchen aus Borke wurden den unter dem Schnee dahin schießenden Sturzbächen anvertraut. Nun wurde genau beobachtet wo welches Boot wieder zum Vorschein kam. Der Besitzer des Bootes, welches es am weitesten schaffte, hatte gewonnen, er wurde zum Sieger erklärt. In der trockenen Kälte des Winters hatten die Valenki ihre Stärke hervorragend unter Beweis gestellt. Mit dem einsetzenden Tauwetter offenbarten sie allerdings ihre ganze Schwäche. Die Feuchtigkeit des Schneematsches  wurde vom Filz schnell aufgesogen. Man bekam erst feuchte und dann unweigerlich eiskalte Füße! Wehe denjenigen, die keine Galoschen aus Gummi zum Überziehen über die Valenki besaßen. Aber auch diese Galoschen halfen nicht immer, sie waren für diese Schlammmassen oft nicht hoch genug! Meine Erinnerungen zum Wetter in Upra während unseres Aufenthaltes gehen dahin, dass es eigentlich nur sehr kalte, trockene, schneereiche  Winter und sehr heiße, trockene Sommer , mit viel Sonnenschein gab. 

Die Übergänge dazwischen  waren meist nur von kurzer Dauer.

5.   Mein Bekanntschaft mit dem Krankenhaus in Kuibyschev

Das erste Frühjahr in Russland bescherte mir eine Scharlach - Erkrankung. Eine junge, russische Ärztin untersuchte mich und verfrachtete mich umgehend auf die Isolierstation des Krankenhauses im entfernten  Kuibyschev. In dem Krankenzimmer lagen mit mir zeitweise bis zu acht russische Kinder. Als erstes wurde mir nach der Einweisung eine totale Glatze geschoren! Der bisherige Aufenthalt in Upra hatte mir ja schon zu einige Russischkenntnissen verholfen, ich konnte mich daher etwas radebrechend mit den Kindern, den Kranken-schwestern und auch dem russischen Arzt verständigen. Trotzdem war es sehr einsam für mich. Ich hatte große Sehnsucht nach meinen Eltern. Leider konnten sie mich nicht allzu häufig besuchen. Vater erzählte mir, dass sie manchmal nur per Anhalter mit einem LkW kommen konnten. Umso größer war dann natürlich bei einem der überraschenden, seltenen Besuche die Freude. Ganz besonders freute ich mich als meine Eltern mir eine große, rote Feuerwehr aus Blech mit einer dreiteiligen, ausfahrbaren Leiter schenkten. Sie war das Objekt der Begierde schlechthin. In unserem Krankenzimmer haben wir damit immer öfter gemeinsam  gespielt. Das Geschenk hatte  mitgeholfen, die gegenseitige Scheu der Leidensgefährten schneller überwinden helfen.Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus habe ich mich über die nachgewachsenen Haarstoppeln so geschämt, dass mir meine Mutter ein so genanntes „Usbekenkäppi“ besorgte.  Fortan ging ich nur noch mit diesem auf die Strasse. Mein Bruder besaß zwar keine Glatze, brauchte aber natürlich auch unbedingt so ein Käppi! Zwei weitere Erinnerungen aus diesem Krankenhaus sind  noch erwähnenswert. 

Die Reinigung der Zimmer erfolgte meist in der Nacht. Die russischen Frauen nahmen Wasser in den Mund und sprühten damit den Fußboden ein. Hygiene musste sein, es durfte ja schließlich beim Fegen nicht stauben! Unser Schlaf war natürlich damit erst einmal beendet, alle waren anschließend wach.Von unserem Zimmer aus war hinter dem Krankenhaus eine große, weiß leuchtende  Grube sichtbar. In diese Grube wurde allerlei Unrat „entsorgt“. Scheinbar wurden dort auch amputierte Körperteile „beseitigt“. Vor meinen Augen sehe ich immer noch eine Hand, die aus der mit frischem Kalk abgedeckten Grube ragte! 

Ein abscheulicher, unvergessener Anblick!

       Disput mit einem „Natschalnik“ 

Der fast 6-wöchige Krankenhausaufenthalt war für mich wie ein Crashkurs in Russisch. Nach meiner Entlassung muss ich dann zu Hause wohl soviel russisch geredet haben, dass meine Mutter mir es schließlich kategorisch verbot. Ich solle zu Hause gefälligst deutsch sprechen! Dies führte später zu einem peinlichen Zwischenfall. Ein russischer Chef meines Vaters kam uns besuchen, es war ein Oberst. Er hatte mit meinem Vater etwas zu besprechen. Ich öffnete ihm und begrüßte ihn auf Russisch an der Wohnungstür. Dann führte ihn in die Wohnung. Im Gespräch machte mein  Vater ihm klar, er könne zu wenig russisch, er verstünde nicht alles. Darauf wies der Oberst wohl auf mich und sagte, ich könne ja übersetzen. Ich soll ihm darauf geantwortet haben, meine Mutter hätte mir verboten russisch zu sprechen. Es folgte eine kurze, heftige Diskussion.  Meine Eltern versuchten die Ursache für mein Verhalten dem Oberst begreiflich zu machen. Irgendwie beruhigten sich die Gemüter aber doch wieder ein wenig. Ich „dolmetschte“ so gut ich konnte und zu guter letzt waren alle zufrieden.

6.   Die langen Sommer und unsere  kurzweiligen „Sommerspiele“

Der April war immer der Monat des großen Schneematsches mit all seinen Unbilden. Mit Beginn des Monats Mai ging es dann schnell in den schönen langen, heißen Sommer über. 

Wir ersannen neue Betätigungsfelder. Endlich  konnten wir unbeschwert im Freien spielen und toben. Wir besaßen dafür alle Freiheiten der Welt. In den ersten Jahren spielte sich natürlich alles mehr in der Nähe der Steinhäuser ab. Die engeren Kontakte zu den Kindern in den Holzhäusern und in der Finnensiedlung entstanden erst später, wurden meiner Erinnerung nach aber nicht mehr so intensiv wie sie sich zwischen den Kindern aus den Steinhäusern bereits entwickelt hatte. Hier gab es die so genannte rote bzw. graue „Bande“, unter die sich mitunter auch russische Kinder mischten. Beide Banden spielten mal friedlich miteinander, aber auch  kämpfend gegen einander. Dies betraf natürlich auch kleinere Auseinandersetzungen zwischen deutschen und russischen Kindern. Wir hatten aber nie die Probleme wie die Kinder zu Hause in Deutschland. Mit den Überbleibseln des Krieges wie Waffen, Munition und Sprengstoff kamen wir nicht in  Berührung und damit auch nicht in Versuchung. 

Der Krieg war ja nicht bis nach Upra vorgedrungen!

       Die Kindertreffen und unsere Spiele

Einer unser beliebten Treffpunkte befand sich unter einem großen Baum in dem Dreieck zwischen dem grauen und roten Haus und dem Rohbau. Hier spielten die Mädchen und Jungen unserer Clique  mit Murmeln, kämpften um Kopeken, balgten sich und trieben den üblichen kindlichen Unsinn. Das Spielen um die Kopeken („Knetschen“, „Knöppen“ oder auch „Knöpern“ genannt) ging folgendermaßen: In den Sand vor einer Hauswand, meist am rechten Giebel des grauen oder roten Hauses, wurde ein Halbkreis gezeichnet. In dessen Mittelpunkt wurde aus den von den Spielern eingesetzten Kopeken ein Turm aufgeschichtet. Alle Münzen mussten z. B. mit der Zahl nach oben auf dem Stapel liegen. In einem Abstand von etwa zwei Metern  wurde ein Strich gezogen. Hinter diesem Strich nahm man Aufstellung. Mit einem weiteren Geldstück warf man nach diesem „Münzturm“. Traf man ihn und drehten sich einige Münzen um, gehörten die im Kreis Liegenden, dem Werfer. Dann war der Nächste dran. Die Russenkinder waren hierin wahre Meister und haben uns anfänglich manche Kopeke abgeknöpft.Zwischen den heranwachsenden Mädchen und Jungen  sprossen natürlich auch erste, schüchterne Kontakte. Man begann sich zu necken und zu triezen. Natürlich wurden auch die üblichen Kinderspiele gespielt. Mit möglichst getreuen Nachbildungen der „kleinen Unterschiede“ hänselte man sich gegenseitig. So machten beide Parteien ersten Erfahrungen mit dem unterschiedlichen Körperbau in den „geheimen“, immer verborgenen Körperregionen des jeweils anderen Geschlechts. 

        Wie ein zahmer Bulle zum „rasenden  Stier“ wurde

Als wir uns wieder einmal am Treffpunkt unter dem Baum verabredet hatten, war dieser bereits anderweitig belegt. Jemand hatte einen Bullen mit einem Strick um ein Horn an dem Baum fest gebunden. Wir hatten natürlich nichts Besseres zu tun, als den Bullen zu ärgern. Mit kleinen Steinchen bzw. mit kleinen geformten Lehmkügelchen, die wir auf der Spitze unsere Haselnussruten auf piekten, beschossen wir das gemütlich in der Sonne dösende Tier aus sicherer Entfernung. Irgendwann hatten wir es erreicht. Der Bulle wurde immer unruhiger, er schnaubte immer wütender, seine Augen verfärbten sich rot. Plötzlich sprang er ruckartig auf, doch der Strick an seinem Horn riss ihn wieder zu Boden. Er landete auf diesem Horn.  Das Horn brach aus der Schädeldecke, der Bulle war plötzlich frei! Rasend vor Wut (und /oder Schmerz?)  begann er Jagd auf uns zu machen. Wir konnten uns nur noch flink in die Kellereingänge retten. Der Stier stürmte immer wieder schnaubend um den Häuserblock. Wir mussten ängstlich darauf warten, dass der rasende Stier sich endlich ausgetobt hatte. Als sein Besitzer später auftauchte, schauten wir schuldbewusst und verängstigt aus unseren Verstecken zu wie er seinen Stier einfing und mit ihm fluchend verschwand.

       Die „Chlebrennbahn“ und Essen außer Haus

Auf der linken Straßenseite vom Magazin zum Werkstor war durch die Initiative und unter Mitwirkung der Deutschen ein befestigter „Bürgersteig“, die so genannte „Chlebrennbahn“ errichtet worden. Sofort nach Bekanntwerden einer Brotlieferung rannten alles was konnte auf diesem Weg zum  sogenannten „Chlebladen“ im Magazin. Man musste sich beeilen wollte man etwas abbekommen! Rechts an dieser Straße, unweit vor dem Werkstor, gab es einen zum Teil überdachten Markt, den bereits erwähnten Rinok. Hier boten vor allem die Bauernfrauen ihre Produkte feil. Man konnte aber außer Lebensmitteln, und Kleidung auch vom rostigen Nagel über Fotoapparate bis zum Radio alles Mögliche erwerben.  Den Preis der Ware regelte auch im Lande des Kommunismus die Marktlage, d.h. Angebot und Nachfrage. 

   Auf dem alten Rinok

Für uns Kinder bot der Markt oft die Gelegenheit den kleinen Hunger zwischendurch zu stillen. Man durfte nämlich vor dem Kauf von Essbarem alles erst einmal Vorkosten! Verspürte man beim Spielen Hunger, ging man zum „Vorkosten“ über den Rinok. Erst probierte man von der süßen Sahne, die füllte einen die Bäuerinnen mit einer Kelle aus einer großen Aluminiukanne, die mit einer Windel zugedeckt wurde, in die hohle Hand. Danach suchten wir die Obststände heim. Hier probierte man Apfelstücken, frische oder getrocknete Pflaumen und sonstiges Obst. Manchmal konnte man am Fleischstand auch ein Zipfel Wurst ergattern. 

Die russischen Frauen waren meist sehr kinderlieb und machten auch bei den deutschen Kindern damit keine Ausnahme.Weniger schön, mitunter sogar schaurig, war der  Anblick des sonstigen Fleisch-Warenangebotes:Vom ihrem Fell befreite Schafe und Teile von Kühe hingen an Haken von den Dachbalken. Sie besaßen noch ihre Köpfe mit den Augen darin. Überall wimmelte es von Fliegen. Daneben „Gehänge“ aus den Innereien der Tiere wie z.B. Lunge, Herz Leber Magen und Nieren und Ähnliches mehr. Aus Mangel an Geld wurde dies von vielen Deutschen gerne gekauft. Prompt zog der ursprünglich sehr niedrige Preis für diese begehrten Innereien stark an! Einen ähnlichen, aber viel größeren Markt gab es in der Stadt Kuibyschev. Um dort hin zu gelangen musste man sich aber vorher vom zuständigen „Natschalnik“ erst einen „Propusk“ – eine Genehmigung für den Besuch der Stadt besorgen.  Auf diesem Markt trieben sehr versierte Taschendiebe ihr Unwesen. Oft genug kamen die Deutschen zurück und ihr Einkauf oder das Geld war gestohlen! Wir fuhren dorthin nur in Begleitung unserer Eltern.

      Wie der Mangel an Bonbons beinahe zum Tode führte

Da es nur selten Zucker zu kaufen gab und falls doch, dann nur nach mehrfachem Anstehen in dem so genannten „Karussellverfahren“, war es auch schlecht um Bobons bestellt. Geschäftstüchtige Russen boten aber ab und an aus karamellisiertem Zucker hergestellte rote oder honigfarbene Lutscher zum Kauf an. Sie hatten entweder die Form eines Colts  oder die eines handtellergroßer Hahnes mit großem  Federschwanz. Beide waren circa 4-5mm dick und mit  einem Holzstiel versehen. Ihr Geschmack war sehr gut! Ich hatte es mir daher ersatzweise angewöhnt, ständig auf einem kleinen Kieselstein zu lutschen. Als es an dem „Baum - Treff“ wieder einmal zu einer kleinen Rauferei kam, verschluckte ich diesen vor Aufregung. In der Folgezeit  erkrankte ich sehr schwer. Eine Röntgenaufnahme  ergab, der Stein hatte sich inoperabel zwischen Luft- und Speiseröhre festgeklemmt. Da ich kaum noch aß, nahm ich furchtbar schnell ab. Die Behandlung übernahm eine nette, ältere russische Ärztin, die auch etwas deutsch sprach. Als meine Eltern mich schon fast aufgegeben hatten, bekam ich zum Glück Keuchhusten. Welch eine Fügung! Während eines furchtbaren Hustenanfalls  hörte ich etwas hinten gegen meine Zähne schlagen. Ich hatte den Stein losgehustet und konnte ihn mit dem Schleim ausspucken. Von nun an ging es mir allmählich wieder besser. Bald war ich ganz genesen und wieder ganz oben auf. Diesen Stein fand ich viele Jahre später in einem Schächtelchen meiner Mutter wieder. Sie hatte ihn wohl für mich aufgehoben, dann aber doch vergessen.

    Tintenherstellung

Die „Galläpfel“ auf den Eichenblättern waren begehrt. Sie wurden gesammelt und zur Herstellung von blauer Tinte verwendet. Dazu wurden die Galläpfel zerstoßen und zusammen mit kleinen Drehspänen aus Stahl mit heißem Wasser angesetzt. Hier raus entstand dann die begehrte Tinte. Die Erwachsenen betrieben ja einen regen Briefwechsel mit den Angehörigen zu Hause und auch Tinte war schwer zu bekommen.

     Hirschkäfer

In den Eichenwäldern lebten Hirschkäfer in großer Zahl. Sie labten sich gerne an den Säften dieser Eichen. Diese großen Käfer kennt man in Deutschland kaum noch. Es waren wirklich beeindruckende Geschöpfe. Die Käfer waren glänzend dunkelbraun. Die Weibchen eher klein und unscheinbar, die Männchen dagegen imposant mit ihrem prächtigen Geweih am Kopf. Die Weibchen waren ca. 6 cm groß, sie wiesen nur zwei kleinere Zangen am Kopf auf. Die Männchen maßen bis zu 10… 12 cm, davon nahm das Geweih über  ein Drittel ein. Stellte man zwei dieser Männchen gegenüber auf, richteten sie sich auf ihren hinteren Beinen auf und nahmen sofort eine Kampfposition für ihre Paarungskämpfe ein. Die Geweihe wurden ineinander verhakt und sie versuchten dann, sich gegenseitig weg zu schieben.Diese Geweihe befanden sich als „Amulette“ wohl in der Schatztruhe jedes Jungen.

       Hirschkäfer als Fassadenschmuck

In einem Jahr hatte mein Bruder und ich einmal von diesen Käfern so viele gefangen, dass wir beschlossen, sie in unser Schlafzimmerfenster einzusperren. Wir besorgten Zweige von Eichen, montierten diese im Zwischenraum der Doppelfenster und „entließen“ die Hirschkäfer in ihr Gefängnis. Es war ein beachtliches Gekrabbel und Gesumme bis in die Nacht hinein. Am nächsten Morgen stellten wir enttäuscht fest, alle Käfer waren weg! Ob diese tapferen Kerlchen es vielleicht allein durch das nicht ganz geschlossene kleine Lüftungsfenster, das so genannte „Okoschko“, geschafft hatten oder ob die genervten Eltern da etwas nachgeholfen hatten ist und bleibt ein Geheimnis. Die Gefangenen waren jedenfalls wieder frei. Am Vormittag konnte man noch viele von ihnen auf der südlich gelegenen, sonnigen Giebelseite des Hauses bewundern. Die ganze Fassade wimmelte von ihnen! Im Laufe des Tages entflohen sie wohl nach und nach in ihre heimatlichen Gefilde.

      Das Sanatorium – Upras dominanter Prunkbau !

Das an dem hohen Wolgaufer errichte Sanatorium diente eigentlich der Erholung der in der Luftfahrtindustrie arbeitenden russischen Werktätigen. Anfangs wohnten hier wegen des in Upra herrschenden Wohnungsmangels aber auch einige deutsche Spezialisten mit ihren Familien. Es war ein sehr imposanter Bau! Die Umgebung dieses Sanatoriums mit seiner im Vordergrund erkennbaren langen Treppe zur Wolga hinunter, sowie das unterhalb des Sanatoriums liegende Fischerdorf wurden von uns nach und nach in unsere Erkundungen einbezogen. Außer über den Weg durch die Schlucht hinter dem Werk und über die Holztreppe vom Sanatorium führte auch der bereits erwähnte, ungepflasterte und vor allem längere, holprige Serpentinenweg in das  Fischerdorf hinunter. Dieser Weg wurde von uns allerdings selten benutzt.

     Die lange Holztreppe ins Dorf der Fischer

Diese allen in Upra lebenden Deutschen wohl unvergesslich bleibende, lange Holztreppe nahm am Sanatorium ihren Anfang und endete unten im Fischerdorf. Sie besaß annähernd 500 Stufen und war in  mehrere Abschnitte aufgeteilt. Zwischen diesen befanden sich verschiedene Aussichtspodeste. Man benötigte diese wirklich, vor allem aufwärts zum Ausruhen! Von ihnen genoss man die schöne Aussicht über die herrliche Wolgalandschaft. Bald erweiterten wir unsere Reviere noch bis zu den riesigen, umzäunten und gut bewachten Sonnenblumenfeldern mit ihren hohen Wachtürmen. Diese großen Felder bildeten zur Blütezeit   schöne, sattgelben Farbinseln in der sonst grünen Landschaft. Es war immer tief beeindruckend, wie die großen, tellerförmigen „Köpfe“ dieser Blumen ihre „Gesichter“ der Sonne zuwandten und dieser in ihrem  Tagesverlauf  folgten. Nicht weniger reizvoll für uns waren die Felder mit den begehrten Wassermelonen. Beide, sowohl die Sonnenblumen als auch die Melonen, wurden von uns trotz strenger Bewachung in russischer „Zapzarapp“- Manier erbeutet.  Uns reizte neben dem Abenteuer vor allem natürlich auch der gute Geschmack dieser Früchte.  

       Semetschki – in Upra für uns unverzichtbar!

Die Sonnenblumen thronten auf meterhohen, dicken Stielen. Wir säbelten diese ganz vorsichtig in Bodennähe ab und ließen sie langsam zu Boden gleiten. Jede auffällige Bewegung in den Feldern konnte zu unserer Entdeckung führen. Die Blumen mit ihren begehrten Kernen besaßen nicht selten einen Durchmesser von einem ½ Meter und mehr. Die Kerne mussten zunächst ausgepult und in der Sonne getrocknet werden. Mitunter wurden sie, wie bereits erwähnt, auch noch leicht geröstet. Danach konnte man sie auf die typisch russische Art verzehren: Man entnahm sie lässig der Hosentasche, warf sie mit einer Hand einzeln in die Luft, um sie dann mit dem Mund geschickt aufgefangen (nach langer Übung!). Sie wurden hochkant stehend zwischen den Zähnen entkernt. Ihre Schalen spuckte man anschließend achtlos irgendwohin aus. Semetschki waren unsere ständigen Begleiter, man hatte sie immer und überall in den Hosentaschen dabei. Ihre Schalen fand man auch überall. Diese Kerne waren Vitamin- und nährstoffreich. Sie dienten den Russen auch als Ersatz für das fehlende frische Obst. 

 

7.   Die Wolga, das Dorf der Wolgafischer und „unsere“ geliebte Insel

Als die Temperaturen hoch genug geklettert waren, luden sie zum Baden ein! An den Wochenenden ging es nun immer öfter mit den Eltern an die Wolga hinunter und auf eine große Insel. Diese Insel lag direkt unterhalb des Sanatoriums und wurde von dem so genannten Wolgaarm und der Stromwolga (auf der Upra abgewandten Seite) umflossen.

Unser Weg dorthin führte uns meist über das Sanatorium und seine steile, lange Treppe zunächst ins Fischerdorf. Eine kleine Ansiedlung armseliger Holzhütten ohne elektrischen Strom und Wasseranschluss! Diese armen Menschen lebten überwiegend vom Fischfang und von ihrem Vieh. In den späteren Jahren trauten sie sich auch nach Upra hinauf und verkauften hier Milch, Eier und natürlich ihre Fische an die Deutschen. Das Ufer des Wolgaarmes mit dem Dorf lag mehr als hundert Meter unterhalb des Ortes Upra.In Richtung Norden sah man das Shiguli - Tor, die engste und zugleich schönsten Stelle dieser Wolgalandschaft. 

Rechts davon lag der Ort Krasnaja Glinka mit seinem weithin weiß leuchtenden Steinbruch. Nach Süden blickte man in Richtung zur Stadt Kuibyschev. n dem Steinbruch schufteten deutsche Kriegsgefangene. Sie wurden in einem Lager am Fluss Sok gefangen gehalten. Man setzte sie zeitweise auch beim Bau der Häuser für die Deutschen ein. Wie ich später erfuhr, bestand ihre Aufgabe unter anderem darin, diese Häuser auf „deutschen Sanitärstandard“  zu bringen! Im Fischerdorf gab es eine Dampferanlegestelle. Von hier verkehrte der alte Raddampfer von und nach Kuibyschev.Neben dieser Anlegestelle dümpelte meist eine unübersehbare Anzahl von Flößen im Wasser. Einige trugen kleine Hütten aus Holz. In ihnen wohnten die Flößer während ihrer langen Reise die Wolga abwärts bis nach Upra, dem Ziel ihrer langen Reise.Mitunter stauten sich die Flöße kilometerlang auf der Wolga. Sie waren mittels Baumstämmen und dicke Baukrampen zu kilometerlangen Schlangen verbunden. Diese Art der Verbindung gab diesen langen Schlangen die erforderliche Gelenkigkeit. Gesteuert wurden die Flöße durch lange, am Heck befestigte „Ruder“. Sie bestanden ebenfalls aus Baumstämmen, welche  mit einem langen Brett benagelt waren. Unter einem dieser Flöße wäre mein Bruder einmal beinahe ertrunken. Wir wollten Angeln und marschierten über einen der Baumstämme zwischen zwei Flößen, mein Bruder glitt auf dem nassen Holz aus und verschwand unter einem Floß. Vater sprang sofort hinterher und erwischte ihn auch gleich. Es blieb bei dem Schrecken und den nassen Klamotten. In der warmen Sonne trockneten diese sehr schnell und so war bald alles wieder vergessen.

      Russische Strafgefangene

Die Baumstämme dieser Flöße wurden von Frauen eines russischen Strafgefangenen-Lagers bearbeitet. Die Frauen mussten sie  zunächst zum Sägewerk oberhalb des Ufers mittels eines Aufzuges herauf ziehen.  Hier  wurden sie dann weiter zu den für den Hausbau benötigten Balken und Brettern verarbeitet.Ein Strafgefangenlager mit russischen Männern gab es ebenfalls. Diese sah man fast täglich unter strengster Bewachung zur Arbeit ins Werk marschieren. Sie trugen einheitlich graue gestreifte Kleidung mit passenden Mützen. Rechts und links der Marschkolonne liefen alle paar Meter Soldaten mit sehr scharfen deutschen Schäferhunden, ihre MPi immer im Anschlag! An diesen Anblick wurde ich später noch oft erinnert, wenn wir uns zu Hause wieder einmal einen Film über ein Konzentrationslager ansehen „durften“. Wie sich die Bilder dieser streng bewachten Marschkolonnen glichen! 

      „Unsere“ geliebte Insel

Die Insel lag eigentlich außerhalb des für die Deutschen eingerichteten Sperrbereiches. Aber gegen dieses Verbot wurde immer wieder verstoßen, dass Ziel war einfach zu reizvoll. So kam es dazu, dass ihr Besuch von den Russen letztlich toleriert wurde. Wollte man auf diese Insel, bat man einen der Fischer,  uns mit seinem Ruderboot für ein paar Kopeken überzusetzen. Diese Bitten erfüllten die Fischer meist sehr gern, konnten sie doch damit ihre karge Haushalt-Kasse ausbessern. Die Insel selbst war nicht bewohnt. Gelegentlich brachten die Fischer ihre Kühe hinüber.  Die Nordspitze der Insel, die man nach einem längeren Fußmarsch erreichte, teilte die Wolga in den so genannten „Wolgaarm“ und die „Stromwolga“. Hier hatte sich ein schöner, flacher Strand mit hellem Sand gebildet, eine ideale Badestelle um Schwimmen zu lernen. Unser Vater, selbst ein guter Schwimmer, gab sich alle Mühe und so erlernten wir Brüder es noch im ersten Uprasommer. In späteren Jahren, wir waren inzwischen auch gute Schwimmer, schwammen wir, die Flöße als Badestelle benutzend, auch im Wolgaarm oder auf der der Stromwolga zugewandten Seite der Insel. Hier war die Strömung sehr stark und man musste die geschwommene Strecke meist zu Fuß wieder zur Badestelle zurück laufen. Im Inneren der Insel befand sich ein sumpfähnliches  Gelände, das wir nicht näher untersuchten. Hier gab es ebenfalls giftige Schlangen. Im Wasser waren sie schwer auszumachen, es ragte oft nur ihr Kopf aus dem die Wasser. Wir mieden daher dieses Terrain. Vielleicht war das aber auch mehr als Abschreckung  für uns von den Erwachsenen erdacht worden. Auch die bereits erwähnte Plage durch die Moskitos lud nicht unbedingt zu einem Besuch ein.Unsere Verpflegung wurde immer für den ganzen Tag mitgenommen. Manchmal durften wir Jungs in den späteren Jahren auch mit älteren Kindern auf der Insel übernachten. Die Eltern sammelten uns dann am nächsten Tag wieder ein.Die Ausflüge zu der Insel und die Tage, die wir auf der Wolgainsel zu brachten, gehören mit zu den schönsten Erinnerungen an unsere Zeit in Upra. Die Landschaft und ihre Natur waren dort einfach herrlich. War man erst einmal auf ihr, konnte wir so ziemlich alles tun und lassen wonach uns der Sinn Stand. 

 

8.  Was es sonst noch aus Upra zu berichten gab

Aber wir Kinder hatten auch nicht immer nur Zeit zum Spielen. Vor allem die Größeren mussten Ihre Eltern oft bei der Arbeit auf den Feldern und Gärten sowie bei der Holzbeschaffung unterstützen. 

      „Kinderarbeit“ in Feld, Garten und im Wald

Auch wir mussten den Eltern in unserem kleinen Garten helfen. Dies überforderte uns allerdings nicht sonderlich, zeitweise  machte es sogar Spaß.Die Holzhäuser, sowie die Häuser in der Finnensiedlung, ließen sich im Gegensatz zu den Steinhäusern nur mit Holz beheizen. Im Sommer musste daher in Vorbereitung auf den nächsten Winter sehr viel Aufwand in die Holzbeschaffung und dessen Aufbereitung investiert werden. War das Holz mühsam herangeschafft, musste es ofengerecht gesägt und zerhackt werden. Hierfür ging manches Wochenende drauf. Diese Arbeiten konnte ja nur an den Wochenenden erledigt werden, wenn die Väter nicht im Werk arbeiteten. Obwohl wir wegen der Zentralheizung kein Holz benötigten, halfen wir manchmal bei Freunden mit. Brennholz war auch das Eintrittsgeld für die Benutzung eines kleinen Holz-Karussells welches der Vater einer Klassenkameradin aus der Holzhaussiedlung vor deren Haus  gebaut hatte. Er hatte ja sein Holz und seine Freizeit in das Karussell investiert!

   Feiern im Freundeskreis

Neben der Beschäftigung in Haus, Feld und Garten hatten wir natürlich auch unsere kleinen Freuden mit Feiern aus Anlässen aller Art, wie z.B. die eigenen Geburtstage oder die der Freunde. Die Feiern zu Ostern und Weihnachten wurden immer mit viel Liebe vorbereitet und durchgeführt. Insbesondere das „Organisieren“ eines Weihnachtsbaumes war z.B. immer sehr abenteuerlich, der musste heimlich aus dem Wald beschafft werden. Geschenke für die Kinder gab es auch, sie fielen natürlich bei weitem nicht so opulent aus wie die Kindergeschenke heute, aber die Freude über sie war mindestens genauso groß!

      Feiern mit Nachbarn und Freunden  

Aber auch die Erwachsenen suchten und fanden alle möglichen Anlässe zum Feiern.
Sie feierten gern mit den Nachbarn und im Freundeskreis und fanden sicher so einen kleinen Ausgleich zu ihrer strapaziösen und langen Arbeit im Werk und zu Hause. Hierbei konnten sie wohl für kurze Zeit ihr ungewisses Schicksal vergessen. Es gab auch ein kleines Orchester, gegründet von Deutschen mit musischer Begabung, das des Öfteren zum Tanz aufspielte. Die Instrumente und Noten waren wohl aus Deutschland mitgebracht.Die Veranstaltungen fanden zunächst im so genannten Klub statt, später dann in der Stalowaja. Hinter dem roten Steinhaus in Richtung zur Finnensiedlung gab es auch ein so genanntes Sommertheater, einen schönen Holzbau mit vielen Schnitzereien und Verzierungen, der ebenfalls für kulturelle Veranstaltungen genutzt wurde. Ich kann mich auch noch dunkel an Filmvorführen, vor allem an die Tarzanfilme erinnern. Leider weiß ich aber weder wo noch ab wann diese Vorführungen stattfanden. Sie waren aber anregend für unsere Spiele im Freien.

      Upra und die Haustiere der Deutschen

Natürlich legten sich die Deutschen im Laufe der Zeit auch Haustiere zu. Einige waren schon von zu Hause mitgebracht worden, andere wurden hier angeschafft. Vorwiegend die Familien aus der Finnensiedlung und aus den Holzhäusern besaßen z. B. Hunde, Katzen, Ziegen und wohl auch Kühe. Diese verbesserten ihre Versorgungslage, machten aber den Kindern nicht nur Spaß sondern vor allem auch Arbeit. Die Ziegen mussten geweidet und beaufsichtigt  werden. Auch in unserem grauen Steinhaus erinnere ich mich an eine Familie, die eine Ziege in der Wohnung hielt.

        "Unser „Haus – Tiger“

Wir nannten nur einen großen, getigerten Kater unser Eigentum. Er war so groß, dass er selbst die Zimmertüren öffnen konnte. Dazu stellte er sich auf die Hinterpfoten, legte die Vorderpfoten auf die Klinke und schob die Schnauze in den sich öffnenden Türspalt. Dann  drückte er die Türen auf. Leider stutzte er sich dabei immer wieder die Barthaare. Bis sich dieses Geheimnis aufklärte, standen wir Jungen unter dem Verdacht, sie ihm abzuschneiden. Mitunter streunte er auch auf dem schmalen Mauersims zu den Nachbarbalkonen. Einmal beobachtete ich ihn, wie er in der offenen Balkontür saß und einen  Spatz auf dem Balkongeländer fixierte. Nach dem anschließenden Sprung war der Spatz fort, der Kater aber auch! Er schoss  über das Geländer und stürzte von der obersten Etage in die Tiefe. Währen des Sturzes drehte er sich mehrmals so, dass er seine Pfoten unter sich brachte. Dann bekam er einen gewaltigen Buckel und landete auf seinen sanften Pfoten unverletzt auf der Straße vor dem Haus und stolzierte mit hoch erhobenem Schwanz davon.

       Hundefänger

Besitzer von Hunden gab es ebenfalls. Sie hatten es mit ihren Tieren manchmal sehr schwer. Freilaufende Hunde mussten nämlich gut bewacht werden. Streunten die Hunde im Ort umher, wurden sie von Hundefängern gejagt und mit einem Kescher oder einer Drahtschlinge eingefangen. In einem kleinen Lkw mit einem Drahtkäfig auf der Ladefläche wurden sie abtransportiert. Angeblich sollen sie zu Seife verarbeitet worden sein!?

       Unerwünschte Haustiere

Es gab aber auch unerwünschte „Haustiere“. Ich erinnere mich, dass wir einmal alle Vier von einem Besuch bei Nachbarn zurückkamen, es war schon etwas später am Abend. Vor unserer Wohnungstür in der vierten Etage saß eine große Ratte und starrte uns mit ihren roten Augen an. Vater trat blitzschnell auf sie zu und versetzte ihr mit dem Fuß einen so gewaltigen Tritt, dass sie in den freien Raum zwischen den Treppenwendeln hinunter stürzte. Sie quiekte die ganze Zeit bis sie im Erdgeschoss aufschlug. Von dort verschwand sie auf Nimmerwiedersehen.

9. Die Zündholzpistolen

In den für uns letzten Sommerferien zog sich mein Bruder beim unserem neuesten Spiel noch eine sehr böse Verletzung zu. Dieses Spielzeug war eine selbst gebastelte „Zündholzpistole“.  Sie wurde aus einem dünnen Bleirohr angefertigt. Das Rohr war ca. (6…7) mm dick und es besaß einen Innendurchmesser von ungefähr (3…4) mm. Es maß etwa 18 cm in der Länge. 

Passend zu dem Rohrinnendurchmesser benötigte man noch einen langen Nagel, der genau in das Rohr hinein passte .Das Rohr wurde nach einer Länge von 8 cm zusammen gequetscht und an der Knickstelle in einem stumpfen Winkel - angenähert an die Form einer Pistole - abgewinkelt. Das kürzere Ende diente als Griff und bekam am unteren Ende eine Öse. Hierzu wurde das Rohrende flach geklopft und zu einem Ring gebogen. Der Nagel wurde ähnlich stumpf abgewinkelt und die Nagelspitze vorne flach abgefeilt. An der Kopfseite des Nagels wurde dieser so verformt, dass hier ein Gummiband befestigen werden konnte. Steckte man nun den Nagel mit seiner flachen, scharfkantigen Vorderseite schräg in das Bleirohr und befestigte das Gummiband unter starker Spannung an der Öse, hielt der Nagel sich in dieser Position. Nagel, Rohr und Gummi bildeten in etwa ein trapezförmiges Viereck. Die Pistole wurde so gehalten, dass man mit dem Abzugsfinger das Gummiband berührte. Der Daumen lag oberhalb am Knick auf dem Rohr. Übte man genügend Druck auf den Gummizug aus, schoss der Nagel in Richtung auf die zusammen gequetschte Knickstelle in das Bleirohr.
Soweit so gut. Natürlich benötigte man  noch eine entsprechende Sprengladung. Hierzu bediente man sich der von Zündhölzern abgelösten Kuppen. Diese gab man von vorn in das offene Rohr und stauchte sie etwas zusammen. Danach wurde der Nagel wieder wie beschrieben schräg ins Rohr geklemmt. Funktionierte alles ordnungsgemäß, löste sich beim Krümmen des Zeigefingers durch den Zug am Gummi der Nagel und schoss ins Rohr und prallte auf die Sprengladung. Beim Aufschlagen auf die Zündholzkuppen sollte er den erwünschten „Knalleffekt“ auslösen. Leider gab es manchmal hierbei Schwierigkeiten. Die gewollte Explosion hing nämlich von der Menge der Zündholzkuppen, deren Trockenheit und Qualität sowie von der Ausführung der „Pistole“ ab. Eine Bauart meines Bruders erbrachte auch nach der achten, neunten oder zehnten Kuppe noch nicht den gewünschten Erfolg. Also wurden weitere Kuppen hineingestopft und dann knallte es, und wie! Das Rohr platzte an der Knickstelle auf, der darauf liegende Daumen ebenfalls! In die entstandene Wunde gelangten Blei- und Schwefelspuren und fortan besaß mein Bruder einen nicht heilen wollenden rechten „Matschdaumen“. Er eiterte ständig. Dies hielt die ganze anschließende Heimfahrt über an und wurde erst zu Hause durch unseren guten alten Hausarzt zur Heilung gebracht. 
Als Erinnerung an diesen üblen Akt blieb eine hübsche Narbe zurück.

        Der „Prüfstand“ und die Testläufe

Wie schon einmal erwähnt, benötigten unsere Väter für die Erprobung der Triebwerke auch einen Prüfstand. Da es im Werk keinen gab, musste dieser von Ihnen erst errichtet werden. 
Nach Erzählungen meines Vaters wurde er mit den bescheidenen Möglichkeiten und unter dem  Termindruck der staatlichen Planerfüllung zunächst ohne jegliche Schallschutzmaßnahmen überwiegend aus  dem reichlich vorhandenem Holz gebaut.
Das Ergebnis war eine ständige, unerträgliche  Lärmbelästigung bei den bald folgenden Test- bzw. Probeläufen eines neuen Triebwerks. Das ohrenbetäubende Dröhnen war im gesamten Ort zu hören. Besonders hart traf es die Bewohner in der Holzhaussiedlung. Deren Häuser befanden sich zum Teil in unmittelbarer Nachbarschaft des Prüfstandes. Der Lärm war besonders nervend, wenn die Triebwerke über viele Stunden alternierend zwischen Leerlauf und Volllast getestet wurden. Es war schlimm, aber noch schlimmer wurde es, wenn während eines sogenannten Staatslaufes überraschend absolute Stille herrschte. Man kannte mittlerweile ja die Prüfintervalle  in etwa. Diese Stille bedeutete dann also meistens nichts Gutes. Irgendetwas war schiefgelaufen. Für die Russen zu erst einmal immer der Verdacht einer Sabotage! Ich kann mich an einen Fall erinnern, wo in so einer Situation bei uns zu Hause mehrere hohe Funktionäre vom Werk erschienen und meinen Vater abholten. Zum Glück konnte dann aber nachgewiesen werde, dass der Fehler durch einen in der Turbine vergessenen Putzlappen verursacht worden war. Ein russischer Arbeiter hatte schlampig gearbeitet und ihn dort vergessen. Das war gerade noch mal für die Deutschen gut gegangen. Für solch ein Vergehen drohte schon schnell mal die Deportation nach Sibirien!

 

  10. Die Schule beginnt!

Aber irgendwann fing auch für mich der erste „Ernst des Lebens“ an. Ich wurde sieben Jahre alt und damit in der UdSSR schulpflichtig! Im September des Jahres 1949 trat ich, bewaffnet mit einer von den Eltern selbst gebastelten Schultüte, meinen Weg zur Schule an.

       Die deutsche Schule

Diese Schule war erst auf massiven Drängen der deutschen Spezialisten für ihre ja zahlreichen (über 800) mitverschleppten Kinder gebaut worden. Das Gelände um das  Schulge-bäude war von einem Holzzaun umgeben. Innerhalb der Umzäunung befanden sich auch der Pausenhof mit den leider unzumutbaren Toiletten sowie einem Sportplatz. Von unseren Häusern lag die Schule etwas weiter weg. Sie war mitten in einer Ansammlung der typischen Holzhäuser errichtet worden. Diese Häuser bewohnten aber nur Russen. Wir mussten über die große Kreuzung am Magazin vorbei in Richtung nach Krasnaja Glinka und dann nach links in die russische Siedlung hinein. Dieser Schulweg war eigentlich nur in den trockenen Sommermonaten begehbar. Im Winter benötigte man  wegen des vielen Schnees häufig Skier. Im Frühjahr hätte man eigentlich Gummistiefel nötig, die es aber leider nicht gab. Für den Matsch und den daraus entstehenden Schlamm waren die Galoschen leider nicht hoch genug. Meine Schulzeit begann in der Klasse von Frau Eichler. Ich glaube, sie war eine der wenigen Deutschen, die eine Ausbildung als Lehrerin vorzuweisen hatte. Bei andern Lehrerinnen und Lehrern, die uns unterrichteten, handelte es sich meist um die nicht pädagogisch ausgebildeten Ehefrauen der deutschen Spezialisten bzw. um diese selbst. Sie stellten sich als Lehrkräfte zur Verfügung. Namentlich erinnere ich mich nur noch an ein Fräulein Redlich. Die Klasse von Frau Eichler hatte mehr als 40 Schüler! Mich findet man auf dem folgenden Bild in der oberen Reihe ganz außen rechts. Natürlich hatten wir auch Unterricht bei russischen Lehrkräften. Dies waren alles ausgebildete Pädagogen, die meist ein sehr gutes Deutsch sprachen. Meine Schulzeit in Upra betrug nur ein Jahr und zwei Monate. Im Laufe des Schuljahres gab es mehrere Zwischenbenotungen. Am Ende des Schuljahres bekam man ein Zeugnis.  In Russland wurden die Zensuren nämlich genau entgegen der in Deutschland üblichen Praxis vergeben. Leider muss ich hier gestehen, dass mein erstes deutsches Zeugnis ähnliche Noten aufwies, aber eben leider mit deutschen Augen betrachtet .Meine Eltern hatten nämlich entschieden, mich wegen der erst mit 7 Jahren erfolgten Einschulung die bereits angefangene zweite Klasse überspringen zu lassen. So begann ich  die deutsche Schule gleich mit dem bereits begonnenen, dritten Schuljahr. Ich war lange der kleine „Russe“, der versuchte als „Fremdling“ in eine bereits gefestigte Klasse mit gefügter Rangordnung und bereits bestehenden Freundschaften einzudringen. Dank der unermüdlichen Nachhilfe durch meine Klassenlehrerin, Fräulein Rolle, wurde ich dann doch noch ein guter Schüler. Ich erkämpfte mir auch nach und nach meinen Platz in der Klassenhierarchie. Bis zum Ende des 4. Schuljahres konnte ich so allmählich meine Defizite ausgleichen. Ich verwandelte mich langsam wieder zu einem richtigen deutschen Jungen.
Nach diesem kurzem Vorausblick aber nun wieder zurück nach Upra! Ich wurde also in die zweite Klasse versetzt! Anschließend an die nun beginnenden üblichen Sommerferien von 3 Monaten besuchte ich aber nur noch für zwei Monate diese Schule in Upra. Dann neigte sich die  Zeit in Russland für unsere Familie überraschend ihrem Ende zu.

 

11. Völlig überraschend: Die ersten Familien dürfen heim!

Im September/Oktober 1950 kam für alle plötzlich und kaum noch erhofft die Nachricht über den lang ersehnten Termin für die Heimreise der ersten Spezialisten und ihre Familien.
Auch  wir zählten zu den wenigen Auserwählten! Die Freude unter den betroffenen Familien war natürlich riesig groß. Der Frust und die Trauer der nicht Betroffenen aber noch größer. Keiner konnte sagen welche Kriterien der Auswahl zu Grunde lagen.  Spekulationen über künftige Heimreisen schossen ins Kraut und führten im Werk und privat zu den unterschiedlichsten Reaktionen. Wir Kinder blieben von allem relativ unberührt. Die schönen Upra-Jahre hatten doch die Erinnerung an die Heimat in eine weite Ferne rücken lassen. 
Die Gedanken an den schrecklichen Krieg, die Flieger- und die Bombenangriffe  sowie die traurige Nachkriegszeit beschworen auch nicht die allerbesten Erinnerung herauf. Ich kann mich noch sehr gut an die „Weihnachtsbäume“, welche die angloamerikanischen Flieger über unserem Ort vor jedem Luftangriff als Zielmarkierungen setzten, erinnern. Dann hieß es sofort ab in den Luftschutzkeller, es war jedes Mal furchtbar. Schönwalde besaß einen Fliegerhorst, welcher wohl die Alliierten animierte hier besonders viele Bomben abzuwerfen! Unser Haus wurde auch von  einer 5-Zentner-Bombe getroffen. Es war zum Glück ein Blindgänger!  Aber das Dach hatte es völlig abgedeckt und in allen Zwischendecken klaffte ein großes Loch. Im Keller konnte die Bombe dann entschärft werden. Die Schäden wurden zwar bald repariert, aber der Schreck saß doch tief. Das häufige Rennen in den Luftschutzkeller unsres Hauses sowie die Angst dort vor weiteren Bomben bei Fliegeralarm war noch nicht verblasst. Vom ständigen Schleppen eines kleinen Koffers mit wichtigen Dokumenten in den hauseigenen Luftschutzkeller - meine Aufgabe bei Flieger-Alarm - hatte ich mir ein „Überbein“ am linken Handknöchel zugezogen. Dieses musste operativ von unserem Hausarzt beseitigt werden. Als Trost hatte er ein damals schon seltenes Bonbon für mich! Ein im hinteren Gartenbereich liegendes hübsches Blockhaus wurde ein Opfer der Brandbomben. Eine weitere Brandbombe landete in der Sickergrube, richtete aber dort weiter keinen Schaden an. Erinnerungen an unsere ehemaligen Spielkameraden in Schönwalde waren auch völlig verblasst. Die Neugierde auf Deutschland, auf unser Haus, den Garten, auf die Verwandten wurde dann aber doch immer größer und so konnten auch wir zum Schluss die Heimreis kaum noch erwarten. Dass wir die Eltern meines Vaters nicht wieder sehen würden, wussten wir bereits. Der Abschied von den vielen gemeinsamen Weggefährten und Spielkameraden dämpfte die Vorfreude allerdings wieder etwas. Die für uns so schöne und ereignisreiche Kinderzeit in Upra werde ich nie vergessen! Von den Nachbarn, den Schulfreunden sowie den Spielgefährten sind mir namentlich nur noch Familie Unger und Wutta, Ingeborg Westermeier, Jürgen Dubnack, Manfred Zeriatke und Theo Redenz, alle aus dem grauen Steinhaus, im Gedächtnis haften geblieben. Allmählich setzte dann die Hektik der erforderlichen Abreisevorbereitungen bei den Erwachsenen ein. Die Umzugskisten mussten besorgt und gepackt werden. Im Gegensatz zu anderen Familien nahmen wir alle unsere Möbel wieder mit nach Hause. Für die Reise wurde genauestens geplant was unterwegs erforderlich werden könnte. Die Eltern hatten ja die Erfahrung von der Herfahrt noch nicht vergessen. Unsere Oma hatte in ihren Briefen viel über die schlechte Versorgungslage  in  der sowjetischen Besatzungszone bzw. der späteren DDR geklagt. Also kaufte der Vater noch diverse, haltbare Lebensmittel ein. Ich erinnere mich u. a. an Eimer mit Butter, Schmalz und Honig sowie an einen geräucherten Schinken. Die letzten Tage vor der Abreise war die Wohnung dann wieder wie leer gefegt, nur noch das Allernötigste war vorhanden. Die Abschiedsbesuche bei befreundeten Familien nahmen zu. Es wurde diskutiert, über die Zukunft spekuliert oder einfach nur geredet und gefeiert bzw. getrauert. Im Anschluss an solche Besuche  war die Stimmung bei allen immer sehr gedrückt. Von unserem  Kater mussten wir uns nun schweren Herzens auch trennen. Er  kam zu Freunden in Pflege und wurde dort hoffentlich gut behandelt. Er war ein lieb gewordener Spielgefährte geworden und hat uns so oft die Langeweile, vor allem an den strengen Wintertagen, vertrieben. 

       Abmarsch nach Krasnaja Glinka

Auf einmal war es dann soweit. Alles Restliche was mit musste, wurde wieder in kleine Busse und die LkW verladen und nach Krasnaja Glinka in den dort wartenden Zug verfrachtet. Die Rückreise begann auf dem Bahnhof, auf dem vier Jahre zuvor die Transporte mit den deutschen Spezialistenfamilien sowie die deportierte  deutschte Technik angekommen waren!

       Verabschiedung in Krasnaja Glinka

Zur Verabschiedung in Krasnaja Glinka waren viele der mit den Abreisenden befreundeten Familien erschienen. Überall fielen sich Freunde und Bekannte in die Arme. Es rannen viele Tränen, bei den Abreisenden Freudentränen, bei den Bleibenden natürlich solche der Wut und Enttäuschung. Immer wieder wurden gute Wünsche für die Zukunft, vor allem natürlich für eine möglichst baldige Heimreise aller Bleibenden ausgetauscht. Dann war es soweit. Die Lokomotive stieß den ach so  vertrauten Pfiff aus, alle mussten einsteigen, die Türen wurden geschlossen und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Alle Abteilfenster zur Bahnsteigseite waren heruntergelassen. Alle winkten bis der Bahnhof und die zur Verabschiedung Mitgekommenen in der Ferne hinter der Kurve verschwanden.

      Unsere Rückreise in die Heimat

Über die Zugfahrt in die Heimat ist mir nicht allzu viel in Erinnerung geblieben. Die Waggons waren etwas vornehmer und komfortabler als bei der Herfahrt. Man konnte auch andere Abteile aufsuchen und man wurde nicht mehr streng bewacht. Es gab natürlich auch wieder die bekannten Probleme des Wasserholens und der Verpflegung bei jedem Aufenthalt. Aber dies funktionierte mittlerweile besser. Jedem Waggon war wie gewohnt ein Zugbegleiter zugeordnet. Mit diesem (prawadnik) hatte ich mich bald angefreundet und so nahm er mich häufig zum Wasserholen mit. Dies brachte immer etwas Abwechslung in das triste Einerlei der langen Reise. Einmal hätten wir mit unserem dampfenden Wasserkessel fast den Zug verpasst. Wir hatten das Signal zur Weiterfahrt überhört und mussten nun mit dem schweren Kessel bis zu unserem Waggon vorturnen. Die Reiseroute war übrigens die gleiche wie die der Herfahrt. An der russischen Grenze musste der Zug wieder auf die in Deutschland übliche Spurweite umgerüstet werden. Die Schüsse auf die Waggons bei der Durchreise durch Polen gab es auch wieder, ich erwähnte es ja schon. Langsam näherten wir uns der Oder. An einem späten Nachmittag überquerten wir die große Oderbrücke in Frankfurt/Oder und damit die Grenze nach Deutschland. Wir waren wieder auf heimatlichem Boden angekommen. Aber es war eine Heimat, die mein Bruder und ich so nicht wieder erkannten. Als wir abends gen Berlin fuhren, rissen mein Bruder und ich  vor Staunen die Augen auf. An unserem Zug fuhr eine strahlend hell erleuchtete, gelb-rot lackierte Bahn ohne (!) Lokomotive vorbei - die Berliner „S-Bahn“. Man konnte durch die großen Fenster die darin sitzenden bzw. stehen Menschen sehen. So etwas hatten wir noch nicht gesehen. Falls meine Erinnerung nicht trügt, mussten wir aber zunächst in ein so genanntes Auffanglager, ich glaube mich zu erinnern, dass es  bei Wolfen/Bitterfeld war. 
Hier bin ich mir aber nicht ganz sicher. 
In diesem Lager wurden die ersten Einreise- Formalitäten abgewickelt. Wir waren ja jetzt Staatenlose. Das Reich, aus dem die Deutschen verschleppt worden waren, existierte als Staat nicht mehr. Es gab zwei neue Staaten, die BRD und die DDR. Unser Haus befand sich auf dem Gebiet welches jetzt zur DDR gehörte. Die Eltern erhielten nun neue Dokumente und ihre Ausweise.   
Nach unserer Rückkehr aus Russland wurde, auch im Familienkreis, nicht mehr lange über diesen Lebensabschnitt gesprochen. Die Eltern wollten diese traurige Phase ihres Lebens schnell vergessen und wir Kinder waren damit beschäftigt, uns in unser neues, ungewohntes Umfeld einzuleben. Kontakte zu Familien anderer Triebwerksspezialisten gab es danach nur noch wenige, die Kinder verloren sich schnell aus den Augen. Aber vergessen konnte ich diese für uns Kinder doch glücklich verlaufene Zeit nicht! Trotz ihres eigenen Leides taten die Eltern alles, uns eine unbeschwerte, schöne Kindheit zu ermöglichen! 

    Soweit meine Erinnerungen. Erst durch den Film „Stalins deutsche Elite“ und nachfolgende Kontakte zu noch lebenden Spezialisten sowie zum Kreis der Upra – Kinder am Beginn des neuen Jahrtausends wurden diese Erinnerungen wiederbelebt. Eines aber ist immer so geblieben! Sitze ich in einem Flugzeug hoch über den Wolken, denke ich oft mit einem gewissen Stolz an unsere Väter (und natürlich die Mütter!). Sie haben mit ihrer Arbeit unter den schwierigsten Bedingungen in Deutschland und auch später, in Russland, maßgeblich mit zur Eroberung der Lüfte durch das Flugzeug beigetragen. 

 


Auszüge aus F.Brandner "Ein Leben Zwischen Fronten"

Am 26. Juni 1946 war es dann so weit, die Stunde einer „Freiheit" hatte geschlagen, die bis zum 27.Jänner 1947 dauerte. Ich wurde in Begleitung eines Hauptmannes Dorffmann, eines Juden als Dolmetscher, in eine DC-3 eingeladen. Wir flogen einem unbekannten Ziel entgegen. Während des Fluges waren wir beide und zwei Offiziere die einzigen Passagiere, alles andere war Transportgut. Die beiden starrten uns an, schließlich siegte die Neugier. „Wer sind Sie? Wurde ich auf Deutsch gefragt. „Ich bin der Ingenieur Brandner aus Dessau." Da malte sich eine unendliche Überraschung auf dem Gesicht des einen Majors, er sagte: „Ich auf Ihrem Stuhl sitze in Dessau, ich Ihren Aschenbecher benütze, wir denken alle: Sie tot".

Das war auch eine Überraschung für mich: ich erzählte die „Umwege", bis es zu diesem Flug kam.

Zu meinem Erstaunen erzählte der russische Major, wer von meinen Leuten wieder arbeite. In Dessau werde wieder aufgebaut, vor allen Dr. Scheibe und Flugkapitän Pohl seien ihre Vertrauenspersonen. Ich erfuhr schließlich, dass ich über Ufa nach Tschernikows gebracht werden sollte, wo General Klimoff bis vor einem Monat oberster Natschalnik gewesen war. Sein Nachfolger, Nicolai Dimitrowitsch Kusnezow, werde mich empfangen.

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Tschernikowsk liegt am Fuße des Urals und ist eine im Krieg entstandene Ausweichstadt. Die Kama floss nahe vorbei. Man hatte dort früher Flugmotoren, wahrscheinlich Lizenz Hispano Siuza 12y, gebaut; denn die Lizenz dieses Typs hatte Klimoff seinerzeit für Russland gekauft. Jetzt aber war das Zweigwerk Köthen von Junkers mit allen Maschinen hierher verlagert worden. Ich nahm an, dass sie das Triebwerk 004 nachbauen wollten.

Am nächsten Abend, 22 Uhr, war der Empfang im Werk angesetzt. Ich wurde in einen großen Saal geführt, musste ihn durchqueren und stand vor einer Gruppe intelligent aussehender Männer. Sie waren um einen riesigen Schreibtisch gruppiert, vor dem 2 Fauteuils standen, von denen einer für mich und einer für den Dolmetscher Dorffmann bestimmt war. Der mir auf den ersten Blick sympathische Mann im Schreibtischsessel stand auf, reichte mir mit starkem Druck die Hand und begrüßte mich zur Mitarbeit in diesem Werk. Es war Genosse „Glawne-Konstrukor" Kusnezow. Nun gab es wie immer ein Frage-und-Antwort-Spiel, von hohem Format, wie ich mit Freude feststellte. Als Kusnezow mir vorschlug, den 6-Reihen-Stern, der in Dessau nicht mehr zur Ausführung gekommen war, neu zu projektieren, sagte ich gern zu. Ich hatte aus Freude über die wieder gewonnene Freiheit einen unbändigen Arbeitswillen. An Geld bekäme ich, was ich brauche, sagte man mir, ich müsse nur einen Antrag beim Finanzmann stellen. Ich könne hingehen, wohin ich wolle, und dürfe Briefe schreiben und empfangen.

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Ich bekam ein Bürozimmer, in dem ein großes Dessauer Reißbrett mit einer Kulmann-Zeichenmaschine stand, dann Zirkel, Bleistift und Papier. Sofort machte ich mich an die Arbeit und sah zu meiner Freude, dass ich weder das Konstruieren noch das Rechnen verlernt hatte. Ich hatte schon im Lager den „Dubbel" vom Anfang bis zum Ende neu durchstudiert. Allmählich fand sich mein Gedächtnis. Ich hatte auf einmal wieder alle wichtigen Konstruktionsmaße im Kopf und begann mit einem Längsschnitt des Reihensternmotors, der sich vom Jumo 222 nur durch die Zahl der Sterne unterschied. Erstmals ruhige Stunden, in denen ich auch wieder als Ingenieur arbeiten konnte.

Dass ein Natschalnik selbst konstruieren konnte, ohne dazu eine Vorlage zu benützen, so aus dem Kopf heraus, das umgab mich mit einer Aura, der ich viel Gutes verdanke. Es kamen immer mehr junge Leute in mein Zimmer „wallfahrten", um zu sehen, was da auf dem Papier entstünde. Als ich dann einen Querschnitt nach dem anderen auf das Papier bannte, die Einspritzpumpen im Schnitt zeigte, sowie sie bei uns in Dessau verwendet wurden, kamen sie aus einer Art ehrfürchtigen Staunens nicht mehr heraus.

Es folgten Tage der Aussprache mit den leitenden Herren. Ich erzählte von den Arbeits-methoden in Dessau und Muldenstein. Viele Fragen, viele Antworten. Der Glaube an mich selbst kehrte zurück. Ich fühlte, dass ich noch etwas konnte, und das gab mir Mut, nun Schlag auf Schlag Neues zu bringen. Vielleicht brachte mich diese Arbeit der Heimat näher!

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Typisch für die sowjetische Industrie ist die Besetzung der Führungsposten mit technischen Akademikern. Auch der Minister und ihre Stellvertreter müssen aus diesem Berufskreis hervor gegangen sein. Man kann nicht sagen, dass dieses System Nachteile hätte. Im Gegenteil!! Nur durch die hohe Bewertung des Ingenieurs bei Führungsfragen haben die Sowjets einen so schnellen technischen und industriellen Aufschwung genommen. Man muss dabei an den Aufwand der amerikanischen Raumfahrtforschung denken, die ihren Anfang dem deutschen Beutegut an V-Waffen zu verdanken hat. Dennoch waren die Russen die ersten, die ihren Sputnik in das Weltall schickten.

Bei uns findet man immer überwiegend Juristen und Kaufleute an der Spitze von Industrien, also Managertypen, die heute eine Textilindustrie und morgen eine Automobilfabrik „sanieren."

In der russischen „Sawod" ist der „Glawne"-Konstruktor, deutsch Chefkonstrukteur, der erste Mann.

Ich hatte mittlerweile eine neue Brennkammerkonstruktion für Jumo 004 vorgeschlagen, die sofort angenommen wurde. Auch hier hatte man auf den Prüfständen die schwache Stelle der Triebwerke entdeckt, das Ausbrennen der Einzelkammern. Wahrscheinlich hatte der russische Kraftstoff noch mehr Schwefelgehalt als der unsrige. Deshalb trat der bewusste Defekt schon nach den ersten Stunden ein. Ich machte 6zylindrische Einzelkammern, ähnlich der damals bekannten Nine-art, und hatte vor meiner Abreise die Genugtuung, dass sie zu vollem Erfolg führten.

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Am 10.Dezember war große Aufregung: der stellvertretende Minister für Luftfahrt, Minister Pallandin, wurde erwartet. Am Abend nach seiner Ankunft ließ man mich rufen und teilte mir zu meinem Erstaunen mit, der Minister wünsche mich zusprechen. Dann stand ich vor ihm: eine große, sehr sympathische Person mit vielen Orden auf der Brust. Er begrüßte mich auf das freundlichste und teilte mir mit, er sei gekommen, um mich zu meinen Kameraden nach Kujbischew zu bringen, wohin das Dessauer Junkerswerk verlagert worden war. Ein alter Bekannter von mir, Dr. Scheibe, und ich sollten den Aufbau übernehmen.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge hörte ich diese Botschaft. Ich schätzte Dr. Scheibe als Mensch, aber was hieß: „Mit ihm zusammen?"

Natürlich freute ich mich auf ein Wiedersehen mit meinen alten Mitarbeitern. Also brauchte ich mein Leben wenigstens nicht hier allein zu verdämmern. Zur großen Freude von Herrn Kusnezow schlug ich dem Minister vor, dass ich meine angefangenen Arbeiten zunächst hier fertig machen und erst am 1. Januar 1947 nach Kujbyschew kommen solle.Dieser Vorschlag sollte mir hohe Zinsen einringen. Er wurde angenommen, mein Weggehen allgemein bedauert.

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Endlich, am 2. Januar 1947 morgens, kam die Meldung durch, der Start sei möglich. Der Flugplatz lag 10 km östlich von Tschernikowsk. Als ich neu eingekleidet wie ein „Barin" in das Flugzeug stieg, fühlte ich plötzlich, dass ein völlig neuer Lebensabschnitt auf mich zukam. Ich hatte mir eine gewisse Achtung bei der Russen verschafft, die in der Zukunft nur von Nutzen für mich sein konnte. Das halbe Jahr Arbeit an diesem Ort hatte ausgereicht, den führenden „Glawny"-Konstruktor von meinen Kenntnissen und Erfahrungen zu überzeugen. So ergab sich der Abschied auf dem Flugplatz wie der von Freunden. Sogar Tränen flossen.

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Der Flugplatz, auf dem wir landeten, lag in der Nähe großer ausgedehnter Produktionswerke. 

Der Name dieser großen, künstlich angelegten Stadt war Besimianka, auf deutsch: „Ohne Namen". Ein Auto wartete auf mich, ein altes Vehikel mit einem Original von Fahrer, mit dem ich dann fast 6 Jahre hindurch die abenteuerlichsten Dienstfahrten unternommen habe. Nach 60 km Fahrt durch Wälder fuhren wir durch eine typische neue Siedlung namens Uprawlentscheski, zu deutsch, Regierungsstädtchen, nach einem großen Sanatorium, das auf einer Anhöhe der Schikoliberge an der Wolga lag. Dort sollte ich mich 2 Wochen lang erholen. Eine wuchtige Architektur mit etwas verwahrlostem Inneren. Diese Verwahrlosung, die ein Kennzeichen fast aller Bauten in kommunistischen Ländern ist, rührt nicht zuletzt davon her, dass bei den Dienstkräften nicht jenes Verantwortungsgefühl herrscht, wie es bei der Verwaltung von Privateigentum, bedingt durch die ständige Kontrolle des Eigentümers, verständlicherweise vorhanden ist. Das Sanatorium beherrschte durch seine Lage den Wolgaraum. Viele Stufen führten hinab in ein Fischerdorf am Strom. Südwärts sah man in weiter Ferne das Wolgaknie. Nordwärts müsste man den großen Damm sehen, der 1954 begonnen wurde und dessen Aufstau bis Kasan reicht.

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Das Gebiet, in dem ich meine nächsten Jahre zubringen sollte, war ein Strafbezirk, über den viele Lager verteilt waren. Ich bekam im Sanatorium ein sauberes Zimmer mit Balkon und Ausblick auf die Wolga. Eine große Ausnahme, denn sonst lagen mindestens 4 Personen zusammen. 

Es dauerte nicht lange, da wurde mir hoher Besuch angekündigt. Oberst Olechnovitsch, der Leiter des Werkes, erschien mit dem deutschen Führer des Kollektivs. Der Oberst begrüßte mich mit betonter Herzlichkeit wie einen alten Bekannten, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte, und er sagte mir, dass mich nicht nur er, sondern auch meine früheren Kameraden schon erwarteten. Er war ein blonder, hochgewachsener Typ mit blauen Augen.

Da waren sie alle: Dr. Scheibe, der Führer des Teams, den ich ja schon viele Jahre als Vertreter Professor Maders kannte. Seine Stellung gab mir noch manches Rätsel auf, aber ich freute mich, ihn zu sehen. Dann kamen – ein wenig verlegen – meine früheren Mitarbeiter, die ich in Muldenstein in falscher Einschätzung der Realitäten zum Abschiedsschmaus eingeladen hatte. Über sie erfuhr ich die Vorgeschichte ihrer Verschleppung: Bald nach ihrer Rückkehr von Muldenstein nach Dessau rückten die Russen endgültig ein. Als Tausch gegen Westberlin war ihnen von den Alliierten Anhalt mit Dessau zugesprochen worden. Sie forderten die früheren Mitarbeiter auf, zurückzukehren und das Werk wieder aufzubauen. Sie bekämen bessere Lebensbedingungen, besseres Gehalt und genössen Sonderrechte. Wer hätte dieses Angebot nicht angenommen! Es gab ja nichts zu essen, alles war knapp oder gar nicht vorhanden. Den Vorteil, die Familien besser ernähren zu können, nahm jeder gern wahr.

So begann der erste Teil des Dramas von Zuckerbrot und Peitsche.

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Schnell füllte sich das Otto-Mader-Werk mit den Resten der alten Garde, das heißt, den von den Amerikanern zurück gelassenen Mitarbeitern. Sie fühlten sich völlig zu Unrecht deklassiert als zweite Garnitur. Dessau wurde zum Sammelplatz verschiedenster Spezialisten. Das Wort: „Du, Spezialist!" wurde in diesen Zeiten geboren, es sollte auf Jahre die für die Sowjets tätigen Techniker der führenden Kriegsindustrie allen anderen Staatsbürgern voranstellen. Das Abkommen der Alliierten von Jalta in der Krim gab den Siegermächten seit 1945 das Recht, alles geistige Eigentum, das in Patenten geschützt war, zu „beschlagnahmen". So entstand auf dem Luftfahrtsektor mit deutscher Hilfe in Amerika der Aufschwung der Raketentechnik und in der UdSSR der Aufschwung im Strahltriebwerksbau.

Nachdem schon die Amerikaner in Dessau abgesahnt hatten, versuchten die Russen durch Emissäre die im Westen lebenden Dessauer Techniker und Arbeiter zur Rückkehr zu veranlassen. In manchen Fällen gelang ihnen das auch. So gaukelten sie den Deutschen den Wiederaufbau in Dessau vor und lockten damit die Erfahrungsträger wie Bienen der Nektar an. Es wurden auch Hochschulprofessoren von der TH Dresden eingestellt und zum Schein neue Prüfstände für Strahltriebwerke aufgebaut. In dieser Zeit begann Rudolf Baade bei den sowjetischen Besatzungsbehörden eine maßgebliche Rolle zu spielen. Ich war mit ihm befreundet und wir duzten uns. 

Schließlich hatten die Russen Ende 1946 in Dessau alles, was sie brauchten, beisammen. Jetzt kam es zu einer in der Geschichte wohl einmaligen Blitzentführung vieler Tausender von Spezialisten aller technischen Gebiete samt ihren Familien und ihrem Eigentum. Am 22. Oktober 1946, um 5 Uhr früh, fuhren Lastwagen mit sowjetischen Militärkommando-Besatzung vor das Wohnhaus des ausgewählten Spezialisten, dem Unglücklichen wurde ein Befehl vorgelesen, worin es hieß, dass das ganze Werk nach Russland verlegt wurde und er mit seiner Familie ihm zu folgen habe. Binnen drei bis fünf Stunden wurde von diesem Kommando die Wohnung geräumt und alles, was nicht niet- noch nagelfest war, in Kisten eingepackt und bezeichnet. Dann fuhr man mit den Familienangehörigen und den Lastwagen zum Bahnhof. Sammeltransporte wurden zusammengestellt. Für alles war vorgesorgt. Die Spezialisten und alle Familienmitglieder erhielten Lebensmittelpakete. Das Möbelzubehör verlud man in Güterwaggons.

Außer der Luftfahrtindustrie waren Chemie, Optik, Hochfrequenz und Maschinenbau von dieser Aktion betroffen. Hunderte Züge rollten in jener Woche durch Polen. Häufig wurde geschossen. Banden versuchten die Züge zu berauben. Nach 8 bis 10 Tagen kamen die Verschleppten in ihren verschiedenen Arbeitsorten an. Sie fanden dort bereits geräumte oder neu aufgebaute Wohnviertel vor, und Wohnungen, wo bereits ihre Namen an den Türen standen.

Die Dessauer Junkerswerke verlagerte man in ein Werk etwas 50 km nördlich von Kujbischew, dem ehemaligen Samara. Es war als Wasserversuchslaboratorium für ein Stauprojekt im Wolgaknie errichtet worden und hatte bereits eine Wohnkolonie für die notwendigen Arbeiter und Ingenieure. So entstand Mitte 1935 Uprawlentscheski.

 

Es war bereits kalter Winter. Die Russen brachten sogar für einige Tage Brennholz in die Wohnungen. In den Steinhäusern hausten je zwei bis drei Familien, die Küche war gemeinsam. Besser waren jene dran, denen man Finnenhütten zugewiesen hatte, Holzhäuser, von den Finnen zu Tausenden als Reparation geliefert. Sie waren winzig im Ausmaß, aber man war für sich allein. Der Rest war in zweistöckigen Holzhäusern mit meist je vier Wohnungen untergebracht.

Das war die Situation, die ich vorfand, als mir meine früheren Mitarbeiter von ihrem Geschick zu erzählen begannen.

Im übrigen fand ich ein Tohuwabohu vor. Cliquen hatten sich gebildet. Manche Leute hatte es nur hochgeschwemmt, weil sie einen akademischen Titel besaßen.

Man hatte für mich die Leitung der Konstruktionsabteilung frei gehalten, weil die Russen es gefordert hatten. Mit meinem Auftauchen hatte die neue Werksführung aber offensichtlich nicht gerechnet, wenigstens nicht in nächster Zeit. Ich musste mich erst orientieren, wie ich die vorgefundene Situation mit der von Minister Pallandin gegebenen Richtlinie koordinieren konnte. Die Fertigung war mit unserem alten Versuchsbauleiter des Otto-Mader-Werkes, Ing. Singer, gut besetzt. Die Warmbetriebe und die Fertigkeitsabteilung hatten den ältesten Mitarbeiter von Junkers, Dipl.-Ing. Steudel, zum Leiter; er war schon damals an die 60 Jahre alt. Als Konkurrenz saß im gleichen Werk ein Team von BMW, das gegen Kriegsende das Triebwerk 003 herausgebracht hatte, mit dem der „Volksjäger" hätte bestückt werden sollen. Ihr Betreuer in Salzgitter war ein Russe, der sehr großzügig in der Gehaltsfestlegung war, so dass die BMW-Gruppe finanziell besser abschnitt als die Junkergruppe. Das erzeugte natürlich Spannungen. Die größte Verbitterung aber fand ich bei unserem Selfmade-Männern vor, die mit niedrigen Gehältern herumliefen, weil für die Russen nur das Schulzeugnis ausschlaggebend war.

Als ich meine Arbeit begann, bildeten wir ein sogenanntes Kollektiv. So mussten wir uns auch 9 Jahre hindurch nennen. Es war ein bunter Haufen, den die Russen nach irgendwelchen nicht zu ergründenden Gesichtspunkten aus der Masse der in Dessau vorgefundenen Fachleuten ausgesucht hatten. Meine alte Kameradschaft war da, dann die Männer von verschiedenen Abteilungen des Otto-Mader-Werkes und von auswärts. An die Spitzen der Abteilungen waren einige Männer gekommen, die von den „Alten" menschlich und technisch nicht kritiklos anerkannt werden konnten.

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Allein das genaue Studium der Gehaltslisten zeigte klar die Ungerechtigkeiten einer willkürlichen Einstellung der Mitarbeiter auf. Eine Beruhigung der Gemüter ließ sich auf Dauer nicht erwarten. Ich forderte deshalb für mein Konstruktionsbüro-Budget eine Erhöhung von 10.000 Rubel im Monat, die ich nach Darlegung der Gründe von Oberst Olechnovitsch auch erhielt. Dann begann ich ein härteres Arbeitsregime einzuführen, aus dem einfachen Grunde, um die Menschen wenigstens während der Arbeitszeit von ihrer Verzweiflung anzulenken. Ein Selbstmord, einige verhinderte Selbstmorde, unzulängliche Holzversorgung, Unfrieden zwischen den willkürlich zusammengepferchten Familien, Krach in den Küchen der gemeinsamen Haushalte, das alles ließ die Stimmung auf Null sinken. Dazu kam noch das für ein Kollektiv ungewöhnlich betonte Klassensystem, an dem wir unschuldig waren; hie Arbeiter, hie Angestellte und hie Akademiker. So hatten wir beispielsweise verschiedene Lebensmittelkarten. Die Arbeiter hatten viel schlechtere Bedingungen als die Ingenieure, die Akademiker bekamen die reichlichsten Zuwendungen, sodass dort nicht von Not gesprochen werden konnte. Die Ärmsten unter uns waren die kinderreichen Familien,da es für sie keinerlei Kinderzulagen gab. Schließlich hatte man einen früheren Frühstücksdirektor der Ifa als Sozialarbeiter eingesetzt, der als ehemaliger Zentrumsfunktionär nur sehr einseitige Interessen verfolgte, noch dazu mit viel Hochmut. Auch das konnte unserer Gemeinschaft nicht zuträglich sein.

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Ich sollte mit Dr. Scheibe gemeinsam das Kollektiv führen. Er brachte von Dessau die Aufgabe mit, ein Strahltriebwerk 012, das schon dort geplant war, mit 300 kg Schub zu bauen. Die Vorarbeiten hierfür wurden in der Gruppe Vorentwicklung projektiert. Wir alle hatten keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet. Nur die Fertigung brachte Kenntnisse von der 004-Produktion her mit. Für mich war alles neu. Die Organisation war junkersmäßig aufgezogen. Die Projektierung hatte nicht mein Vertrauen, wohl aber die Gruppe Thermodynamik, die unter der vortrefflichen Führung eines ehemaligen Dresdener Physikprofessors stand. Er und ein Mathematiker –ebenfalls von der TH Dresden – waren diejenigen, die die Grundlagen für die Rechnungen schufen. Sie rechneten die cp- und cv-Tafeln (spezifische Wärme bei konstantem Druck) nach den neuesten Formeln von Joost aus und ermöglichten damit die Durchführung einer Kreisprozessrechnung. Die Russen gaben uns keinerlei wissenschaftliche Arbeitsunterlagen. Wir besaßen nur technische Handbücher, die „Hütte", den „Dubbel" und eine Charakteristik über eine Stufe des 04-Kompressors. Das war alles.Mit Rohmaterial jeglicher Art und jeglicher Form hingegen waren wir reichlich versorgt: Bleche, Schaufelmaterial, Scheiben, Kugellager usw. kamen als Beutegut aus Dessau.

Ich entschloss mich, in der Konstruktion die Verwendung nur dieses gegebenen Materials streng vorzuschreiben. Das sollte sich als überaus wichtig herausstellen im Wettbewerb mit unserer damaligen Konkurrenz, der BMW-Gruppe, die sich zu sehr auf die Versprechungen von Materiallieferungen durch die Russen verließen. Diese wurden natürlich nicht eingehalten, was große Zeitverluste verursachte. Unsere neuen Triebwerke 012 liefen bereits auf den Prüfständen, als das BMW-Triebwerk noch auf sich warten ließ.

Diese Schlappe führte dann auch zur Vereinigung der beiden Kollektive zu einem einzigen. Der Chef des BMW-Teams übernahm die Leitung des Versuchs, ich das Konstruktionsbüro. Die anderen Abteilungen wurden sinngemäß aufgeteilt. Bei dieser Vereinigung setzte ich auch einen Ausgleich der Gehälter durch, der im wesentlichen zu einer Reduzierung bei der BMW-Gruppe und zu einer Erhöhung bei der Junkergruppe führte. Angesichts der Notwendigkeit einer gerechten Bezahlung bei einem Kollektiv von 2000 Menschen hielt ich dies für unumgänglich notwendig, um den inneren Frieden auf die Dauer zu regeln.

In 2 Jahren entstand das erste Strahltriebwerk, es brachte unseren bunten Haufen langsam auf eine Linie.

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Wir verwendeten Tinitur-Schaufelmaterial von Krupp und Schweißkonstruktionen, soweit das

möglich war. Wir passten unsere Teile den Fertigungsmöglichkeiten der inzwischen montierten Fabrikationsmaschinen an, die aus Dessau oder den Zweigwerken herbeigeschafft worden waren. Aus Dessau war auch der frühere Leiter der Leichtmetallgießerei, Dr. A., mitgekommen. Er errichtete mit primitiven Mitteln in Arm, einem Vorort unserer Siedlung, eine Leichtmetallgießerei, die unseren ganzen Bedarf an Leichtmetallguss deckte. Das war eine hervorragende Einzelleistung.

Bei der Ankunft der Werkzeugmaschinen war manches zu Bruch gegangen. Man hatte die Kisten mit dem Maschinen einfach von den Lastwagen auf den Boden gestürzt, weil keine Krane zur Verfügung standen. Jetzt begann aber das Wunder der russischen Improvisation. Die Russen zerlegten jede Maschine und reparierten sie mit erstaunenswerter Genauigkeit, wobei sie zusammen mit unseren geschulten Kräften geradezu Wunder vollbrachten. 

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Jeder Betrieb braucht eine gewissen Ordnung, um leistungsfähig zu werden. Mit diesem ersten Triebwerk hatten wir sie erzwungen. Dabei waren die Anfangsleistungen unserer Arbeiter und Monteure unter bittersten Entbehrungen angelaufen. Im kalten russischen Winter bei 25 Minusgraden, die wir erstmalig in ihrer Härte kennengelernt hatten, bauten unsere Monteure, nur mit Wattewesten bekleidet, die ersten beiden Prüfstände aus Holz. Auch unsere Dessauer Planungsleute, die mitgekommen waren, leisteten hervorragende Arbeit. Was Spezialmaschinen, weil nicht vorhanden, nicht ausführen konnten, wurde besonders bei der Schaufelbearbeitung, dank der schöpferischen Fantasie der Arbeitsvorbereitung unter Leitung Dr. Bredendiecks, später Professor an der TH Dresden, gemeistert. Alles schufen unsere Leute neu. Die Junkers-Wasserbremse wurde als Einscheibenbremse neu konstruiert; es war die größte bisher bei uns gebaute. Sie arbeitete einwandfrei mit der vorgeschriebenen Genauigkeit. Alle Messinstrumente wurden aus dem Beutegut zusammengesucht. Für die Differenzdruckmessung der Kompressionsstufen fertigten wir ein Messgerät an. Durch Abreißen der Strömung bei verschiedenen Stufen trieb es das Quecksilber heraus, das immer wieder in den Ritzen des Holzfußbodens verschwand. Das ging 2 Jahre gut, bis alle, die sich auf den Prüfständen aufhielten, Quecksilbervergiftungen bekamen, der eine mehr, der andere weniger. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass sofort neue, große Prüfstände aus Beton gebaut wurden. In einer nahezu märchenhaft kurzen Zeit von 2 Monaten waren sie fertig.

Nach vielen Schwierigkeiten, aus denen wir alle lernten, wie ein Strahltriebwerk richtig auszulegen war, konnten wir mit den 100-Stunden-Dauerläufen beginnen. Dabei geschah es einmal, dass eine Turbinenschaufel brach, als ich mir die rotglühende, verstellbare Schubdüse von hinten ansah, um die ungleiche Temperaturverteilung zu studieren. Das rotglühende Bruchstück sauste zwischen meinen Beine in die Erde. Ich hatte Glück gehabt.

Die Schwierigkeiten in der Schaufelfertigung lagen vor allem darin, dass die Abweichungen in der Profilfertigung durch nicht genaue Einhaltung der Winkeltoleranzen zu groß wurden; die Wirkungsgrade zwischen den verschiedenen Kompressoren waren sehr verschieden und verschoben die Abreißgrenzen. Bei der Brennkammer gingen wir neue Wege. Ich wollte die Vorteile der Einzelkammer mit denen der Ringkammer vereinen, und so schufen wir einen Typ, der höchsten Ausbrand hergab. Bei unserem Triebwerk waren nie die Rauchfahnen sichtbar, wie z. B. bei den Triebwerken unserer amerikanischen und englischen Konkurrenz noch in den siebziger Jahren. Ich habe in technischen Veröffentlichungen hierüber genau berichtet.

In der Sowjetunion endet jede Entwicklung mit einem Staatslauf oder mit einer staatlichen Übernahme. Erst damit ist die gestellte Aufgabe als erfüllt betrachtet. Eine Kommission aus Moskau wurde uns angekündigt, die zuerst alle Berechnungen und Zeichnungen prüfen, stempeln, die Messtoleranz festlegen, verschiedene Vorprüfungen am Prüfstand machen und dann erst den Dauerlauf mit einem vorgeschriebenen Lastprogramm anlaufen lassen sollte. Wir hatten ein gutes Gewissen, wenngleich mir die unerklärlichen Ausreißer bei den Turbinenschaufelbrüchen Kopfzerbrechen machten. Mein Freund, Dr. Schmid, Leiter der Bauteilprüfung, warnte mich, weil wir hierfür keine lückenlosen Erklärungen hatten. Wir kontrollierten zwar die Eigenschwingung jeder Schaufel in der Produktion, aber die Art der Eigenschwingungserregung, ob Eigen- oder Fremderregung, die zur Resonanz und damit zum Bruch führte,war nicht klar. Wir hatten aber einige einwandfreie 100-Stunden-Läufe gemacht, sonst hätten wir es nie gewagt, den Staatslauf anzumelden. Da bei erfolgreicher Absolvierung große Prämien ausgeschüttet werden sollten, drängten vor allem die Russen auf den Staatslauf und hoffen, dass alles gut gehen würde.

Dieser Staatslauf im Jahre 1948, also 2 Jahre nach dem Anlaufen der Arbeiten, war an und für sich eine gewaltige Leistung und stellte unserem Kollektiv ein sehr gutes Zeugnis aus. Um es kurz zu machen: Nach einer spannungsgeladenen Woche flog eine Turbinenschaufel in der 94. Woche davon. Alle unsere Mühe war umsonst, wir selbst bis auf die Knochen blamiert. Die Kommission war weder böse noch enttäuscht, sie fuhr einfach wieder ab.

Die Abteilung Festigkeit und die Schwingungsabteilung mit ihre Bauteilprüfung sahen noch einmal das ganze Schaufelproblem durch und entdeckten dabei immer mehr Neuland, auf dem man suchen musste. Unsere Metallurgen, Steudel und Lorenz, erkannten die Zusammenhänge zwischen dem beim Schmieden entstehenden Grobkern und der Dauerstandfestigkeit. Sie fixierten 0,5 mill. als oberste Korngrenze. Die ersten Überlegungen über den Einfluss der Temperaturwechselfestigkeit wurden angestellt. Die Einflüsse der Temperaturverteilung vor dem ersten Leitkranz der Turbine, die Entfernung der Streben für die Schubdüsenhaltung von der letzten Turbinenstufe und die Strömungsvorgänge im Schaufelkanal – um nur einige Gebiete zu nennen – wurden leider nur theoretisch oder durch improvisierte Versuche untersucht. Wir hatten als Messmöglichkeiten nur das, was wir uns selber anfertigen konnten.

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Wir waren alle nur auf unser Gehirn, auf unsere Fantasie und auf unser handwerkliches Können angewiesen. Wir mussten Berichte über Berichte an die russische Zentrale der Triebwerksforschung abliefern. Wenn ich mich recht erinnere, lieferten wir über 200 theoretische und experimentelle Berichte ab. Davon lernten unsere Brotgeber am meisten. Es folgte ein reger Gedankenaustausch. Viele kamen und unterhielten sich mit unseren Strömungsleuten.

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Nachdem 1948 unser Triebwerk bei der Vorführung gescheitert war, merkte man vielfaches Interesse von Seiten der Moskauer Behörden. Bis dahin hatte wir das Gefühl, man lasse uns spielen. Eines Tages hörten wir von unserem Oberst, dass Stalin sich abfällig über unsere Konstruktion geäußert habe. Er sagte, wir hätten eine Lokomotive gebaut. Diese Methode kannte ich bereits. Man wollte uns aufstacheln und statt der erhofften Heimkehr sollten wir wieder von vorn anfangen.

Ich bemühte mich immer, den Willen zu schöpferischer Mitarbeit unter meinen Mitarbeitern zu wecken. Wie ich glaube, ist mir das dann im Laufe der Jahre auch gelungen. Später wurde ich deshalb von einigen Leuten in Westdeutschland als Stachanow hingestellt. Wir waren Gefangene des Siegers. Dass er uns gut behandelte und uns gut bezahlte, waren angenehme Begleitfakten, die aber nicht so schwer ins Gewicht vielen wie die Verbannung. Ausnahmslos litten wir alle an Heimatsehnsucht. Keiner von uns wusste damals, was die Sowjets mit uns endgültig vorhatten. Ich allein glaubte, dass wir durch unsere technische Leistung ein Faustpfand in den Händen hielten, denn meine Schlussfolgerung aus allen bisherigen Erlebnissen war, dass der Sowjetmensch nur einen Gott kannte: die Technik.

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Als wir mit russischer Hilfe eine deutsche Schule für unsere Kinder aufbauen durften, kamen viele Probleme auf uns zu. Gewiss, endlich konnten wir unseren Kindern eine Schulausbildung geben, und dadurch hatten die Mütter mehr Zeit und Ruhe. Es war eine zehnklassige Schule vorgesehen, in der ehemalige Schulmeister und Schulmeisterinnen unseres Kollektivs unterrichteten, nach genau vorgelegten Schulplänen, die der russische Direktor ihnen gab. Der Russischunterricht erfolgte durch russische Kräfte. Die Arbeit unseres Führungsteams hatte an dieser Schulgründung großen Anteil. Am 1. September wurde die deutsche Schule unter der Bezeichnung „Deutsche Spezialistenschule" eröffnet und erfasste rund 260 Schüler. Das Niveau der Schule war hoch, das stellte sich heraus, als sich unsere ersten Abiturienten in den Hochschulen in Kuibyschew und Moskau mit russischen Hörern messen konnten.

Der Lehrplan in allen Fächern wie Deutsch, Russisch,Mathematik, Physik, Chemie, Geschichte, Erdkunde, Naturkunde, Astronomie, Darwinismus und Verfassungskunde war sehr konzentriert, und unsere Kinder mussten sich sehr anstrengen, um den Anforderungen zu genügen. So wie bei uns in der Fabrik wurden auf einem schwarzen Brett die Bestleistungen von Schülern hervorgehoben. Von der 3. Klasse an wurde jedes Schuljahr durch eine Prüfungsaktion beendet. Die Fragen mussten schriftlich und mündlich beantwortet werden; sie wurden durch das Los gezogen und waren in der ganzen Sowjetunion die gleichen. Ein solches System ist ausgezeichnet, wenn man mit einem häufigen Wechsel des Schulortes rechnen muss.

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Persönlich erwiesen mir die Russen zweimal ein außerordentliches Wohlwollen. Kurz nachdem ich 1947 in Uprawlentscheski angekommen war und zu meiner Überraschung ein Monatsgehalt erhielt, schrieb ich sofort an Stalin ein Gesuch, mir die Übersendung meines Gehaltes an meine Familie zu gestatten, die ohne meine Unterstützung in materieller Bedrängnis lebte. Einen Monat später rief mich der Oberst und ließ mir eine Verordnung vorlesen, worin ich durch einen Stalin-Erlass die Erlaubnis erhielt, 6000 Rubel nach Hause senden zu dürfen.

Die Diskussionen über das Geld-nach-Hause-Senden hatten Erfolg. Seit Beginn 1948 durfte jeder bis zu 50% seines Gehaltes in die DDR oder in die russische Zone Österreichs senden. Nun hatte meine Familie endlich eine reichliche materielle Sicherheit. Auch die anderen Familien begannen jetzt zu sparen, damit sie den Rest in die Heimat senden und sich einen Spargroschen zurechtlegen konnten. Die Verfügung hatte noch eine etwas würdelose Folge; denn in den schwarzen Basaren bei uns und in Kuibyschew tauchten nun unsere deutschen Spezialisten auf und verkauften aus ihrem Haushalt alles, was hoch im Kurs stand. Von Damenspenden bis zum Nachthemd, von alten Nägeln bis zu Möbelstücken jeder Art, alles war gefragt. Alles brachte Rubel, und diese Rubel konnte man in der Ostzone versilbern. 

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Ende 1948 kam die dritte Überraschung. Über Nacht wurde ich nach Moskau ins Ministerium befohlen. Der Minister wollte mich sprechen. Das war nun in vieler Hinsicht sonderbar, warum mich und nicht den offiziellen Leiter des Kollektivs? Blitzartig kamen die wildesten Gerüchte auf. Weitere Verschleppung, Führungswechsel? Niemand hatte Vertrauen in die Zukunft. Das waren die schwersten Folgen der Verschleppung: man traute den Sowjets nicht über den Weg.

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Ich sah in Moskau wohl mehr, als ich eigentlich sehen sollte. Nur wir in Uprawlentscheski lebten ein Scheinleben, da wir eine spezielle Lebensmittelzuteilung hatten. Statt frischer Eier war in ganz Russland noch das amerikanische Eipulver im Umlauf. Obst gab es überhaupt nicht.

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Endlich kam der Tag, an dem ich in das Ministerium geführt wurde. Ich weiß nur noch wenig vom Air des Mannes, der mich begrüßte und mir folgendes mitteilte: „Wir haben für Sie und Ihr Kollektiv eine neue Aufgabe. Wir wissen, dass sie geleistet werden kann, denn wir kennen Sie aus Dessau. Sie sollen in Russland Propellergasturbinen entwickeln. Sie haben einen Konkurrenten, General Klimow, der in Leningrad an derselben Aufgabe arbeitet. Die Soll-Leistung beträgt 6000 PS."

Auf meine Frage ob dies nun bedeute, dass wir unsere Heimat und ich meine Familie nie wiedersehen würden, da wir doch dann an einem geheimen Militärauftrag arbeiten würden, gab er mir die historische Antwort: „Wenn sie diese Aufgabe erfüllt haben, können sie alle in ihre Heimat zurückkehren. Ich gebe Ihnen 5 Jahre Zeit. Wir wissen, in der Technik kochen alle nur mit Wasser. Auch die Amerikaner. Sie werden den Amerikanern alles erzählen können, denn sie werden sicher nichts nachbauen. Die wollen nur wissen, welche Typen und wie viel Stück von jeder Type wir machen. Das werden sie nie erfahren." Nach 10 Minuten war ich wieder entlassen. Eine Zentnerlast fiel mir vom Herzen. Von diesem Augenblick wusste ich,dass wir die Heimat wiedersehen würden, wenn auch noch Jahre dazwischen lagen.

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Das ganze Kollektiv wurde nunmehr einer zielstrebigen Planung unterworfen, bei der Parallelarbeiten vermieden werden sollten. Spannungszentren wurden ausgeschaltet und dann mit der Arbeit begonnen.Innerhalb zweier Jahre erledigten wird die uns gestellte Aufgabe mit der Energie hoffender Menschen. Zwei neue Hauptabteilungen hatten dabei wesentlichen Anteil.

Wir hatten eine mechanische Leistung abzubremsen und mussten somit erst eine Bremse für 6000 PS und eine Drehzahl von 7650 U/min konstruieren und bauen. Zusätzlich die gesamte Regelung. Für alle diese Teilaufgaben waren die Speziallisten aus Dessau vorhanden. Die Regelung war so geplant, dass mit dem Luftgewicht eine bestimmte Kraftstoffmenge zugeordnet wurde und der damit festgelegten Leistung eine bestimmte Drehzahl. Die Drehzahl konnte durch Verstellung der Luftschraubenblätter eingestellt und durch einen Drehzahlregler konstant gehalten werden.

Der Wille, den Minister beim Wort zu nehmen, riss die gesamte Mannschaft zu einer Arbeitsleistung hin, die vielleicht nur uns erklärlich war, galt es doch, unserer Freiheit und unsere Rückkehr in die Heimat zu erkämpfen.

Im September 1950 wurde überraschend der erste Transport mit 600 deutschen Spezialisten und deren Familien nach Hause geschickt. Das war eine große Sensation. Mancher Heimkehrer fand sich nicht gleich zurecht. Schließlich waren die Lebensverhältnisse in Russland erträglich geworden, man konnte erspartes Geld nach Hause schicken. Es wurde uns damals mitgeteilt, dass der letzte Deutsche bis 1952 das Land verlassen haben sollte. Zur gleichen Zeit wurde uns gesagt, dass die einzige Parallelentwicklung unseres Triebwerkes, die von General Klimoff in Leningrad, eingestellt worden sei.

Unser Staatslauf wurde noch im selben Jahr 1950 erfolgreich durchgeführt. Wir waren diesmal besser darauf vorbereitet und wussten, dass uns keine Havarie den Erfolg nehmen konnte. Die Anerkennung erfolgte in Form von Geldprämien, die zu 50% nach Hause geschickt werden konnten.

Das Triebwerk kam dann zur weiteren „Verwendung" unter die Fittiche irgendeines „Glawne-Konstruktors", der den Gegenlaufpropeller durch einen Propeller ersetzte und das geschweißte Gehäuse änderte. So erkannte ich dann an der Antonow 10, die wir später in Ägypten umbauten, das Triebwerk kaum wieder.

Gleich anschließend an diesen Staatslauf erhielten wir den Auftrag, ein Triebwerk mit 12000 PC zu bauen.

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Nun wurden wir gezwungen, unsere letzte große Aufgabe, die 12000-PS-Type, „K" genannt, in kürzester Zeit bis zur Detailreife zu bringen.

In dieser Zeit begann die seelische Belastung ständig anzusteigen,. Statt nach Hause entlassen zu werden, bekamen wir den Auftrag, das größte Triebwerk der Welt zu bauen. Noch einmal gelang es mir mit Unterstützung meiner alten Mitarbeiter aus Dessau, die allgemeine Müdigkeit zu überwinden und in 3 Monaten härtester Arbeit Auslegung und Konstruktion des 12000-PS-Triebwerkes zur Durchführung zu bringen.

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Bevor ich mit dem technischen Teil abschließe, möchte ich noch einmal auf die russischen Führungskräfte zu sprechen kommen, die uns von 1947 an begleitete. Der Mann, der die Verschleppung von Dessau nach Uprawlentscheski durchführte, Oberst Olechnowitsch,war kein Fachmann, aber er war ein Offizier mit überdurchschnittlichem technischem Verständnis. Ich kam gut mit ihm aus, wenngleich auch seine skrupel- und manierlose Art unsere Herren häufig schockte. So spuckte er während einer Sitzung in den Papierkorb oder klaubte seinem Nachbarn, dem mächtigen und gefürchteten Leiter des Betriebes, die Wanzen vom Revers. 

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Diese Führungsschicht wurde 1949 überraschend abgelöst, nachdem Olechnovitsch im berauschten Zustand ein Kind überfahren und getötet hatte. Er selbst überlebte den Wechsel nicht lange.

Zu meiner größten Freude kam der „Glwane-Konstruktor" von Tschernikow, Nikolai Dimitrowitsch Kusnezow, als neuer Werkeiter zu uns. Er begrüßte mich strahlend. Ich genoss von Anfang an sein Vertrauen, und seit dieser Zeit begannen der Zwang und die Unterdrückung, die von Seiten der früheren Führung auf das deutsche Kollektiv mehr oder weniger stark ausgeübt worden waren, einer vernünftigen –wenn auch konsequent harten - Behandlung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen zu weichen. Auch wurden die Lebensmittelverhältnisse besser. Man hatte Preissenkungen durchgeführt und der allgemeine Lebensstandard –auch unserer Arbeiter und vor allen der unserer kinderreichen Familien – war angestiegen. Während ich in der Ära Olechnovitsch wenig ausrichten konnte, um das Unrecht im Wohnen, in der Einstufung und in der Allgemeinbehandlung zu lindern, konnte ich bei Kusnezow mehr erreichen.

Die offizielle Führung kümmerte sich mit einem Stab von Idealisten um ein Sozialwerk, das nicht hoch genug gelobt werden kann. Es wurde eine Krankenversicherung eingerichtet, um unseren Kranken, die anfänglich beim Fernbleiben vom Arbeitsplatz keinen Lohn bekamen, den Ausfall zu vergüten. Auch hörte der Zwang, die russische Sprache zu erlernen, sofort auf, ebenso wie die Haftstrafen, wenn jemand zu spät zur Arbeit kam. Der neue Werksleiter Titow ersetzt einen für den Betrieb besonders unangenehmen Mann,der zusammen mit dem Leiter der Arbeitsvorbereitung eine Willkürherrschaft aufgerichtet hatte, gegen die wir alle nichts ausrichten konnten. Diese alte Garnitur hasste alles, was deutsch war.

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In der Hoffnung, uns durch eine erfolgreiche Arbeit die Freiheit zu erkaufen, schufen wir seit 1949 ein Arbeitsklima, das bis 1952 als gut zu bezeichnen war. Kusnezow war ein junger, fröhlicher Typ, außerordentlich klug und technisch gebildet und wurde von uns allen anerkannt. Geschulter Dialektiker, konnte er auch über Dinge reden, von denen er wenig verstand. Ich persönlich lernte in dieser Zeit viel, vor allem in der Art, umfassende Planung zu machen.

So wurde ich zum Beispiel noch unter Olechnovitsch zu Beginn der Arbeiten an den Propellerturbinen gefragt, wie viele Triebwerke wir bis zum Staatslauf verbrauchen würden. Ich antwortet: „20 bis 25". Olechnovitsch setzte die Zahl mit 12 fest und erklärte mir, dass ich bei Überschreitung dieser Zahl vor ein Kriegsgericht käme. Wir brauchten 18 Stück, aber niemand sprach von Anklage. Solche Gespräche kamen jetzt nie wieder vor. Gerade beim Entwurf der Type K mit 12000 PS waren wir Deutschen der Meinung, man sollte aus Sicherheits- und Termingründen mit der Eintrittszahl nicht über 0,8 gehen. Die Russen aber wollten die ersten beiden Stufen als Überschallstufen ausführen. So kam es zu Parallelkonstruktionen, bei denen sich die Russen aber kalte Füße holten. 

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Anfang 1953 kam das Triebwerk auf den Prüfstand und erbrachte ohne weitere Schwierigkeiten die geforderte Leistung. Im Verlaufe dieser Reifemachungsarbeit ließ der Eifer und die Arbeitsfreude rapid nach. Es waren nämlich weitere Transporte in die Heimat zurück geschickt worden. Sie umfassten aber nur Leute, die bei den neuen Entwicklungsarbeiten am Rande des Geschehens mitwirkten. Von den ehemals 800 Spezialisten waren noch ungefähr 200 mit ihren Familien dageblieben.

1952 begann ich, meine Briefe an Otto Grotewohl und Minister Chrunitschew zu schreiben. Ich bat sie, uns die Heimkehr zu ermöglichen. Die Briefe wurden zwar bestätigt, aber nicht beantwortet. Immer größere Enttäuschung ergriff langsam das Kollektiv. Als aber Kusnezow erklärte, unsere Auffassung, dass man uns für 1952 die Heimkehr versprochen habe, sei ein Irrtum, da war der Teufel los. Ich hatte herausbekommen, dass er uns noch brauchte. Er war sehr ehrgeizig und wollte wahrscheinlich mit unserer Hilfe den Stalinpreis bekommen, fühlte sich aber mit seinen Leuten allein noch nicht sicher genug. So kam es dann ja zur sogenannten letzten Arbeit, dem 12000-PS-Triebwerk.
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Das gesellschaftliche Leben des Kollektivs verteilte sich in all den Jahren auf verschiedene Gruppen, die sich nach sozialen, künstlerischen oder religiösen Momenten fanden. Die Krankenbehandlung erfolgte in der sogenannten Polyklinik und war kostenlos. Schwierige Operationen wurden in Kuibyschew durchgeführt. Die Angst vor Epidemien veranlasste die Russen zu allgemeinen Impfaktionen, die wenig beliebt waren.
Für die Beerdigung unserer Toten hatten wir uns im Laufe der Jahre einen eigenen Friedhof geschaffen, der mit Stanzabfällen eingefriedet worden war und dessen Gräber alle gleichmäßig mit Steinplatten ausgelegt wurden. Eichenkreuze, alle gleich, trugen die Namen der Toten. Wir hatten Männern, Frauen, darunter auch Großmütter, und Kinder unter unseren 54 Toten. Fünf Mitglieder unseres Kollektivs endeten durch Selbstmord; eine Frau mit 3 Kindern erhängte sich aus religiösem Notstand, ein Mann stürzte sich vom obersten Stockwerk der „Sawod" aus Heimweh in die Tiefe. 
Unsere Begräbnisse waren Ereignisse, die die einheimische russische Bevölkerung auf die Beine brachte. Eine lange, dunkel gekleidete Reihe folgte dem Sarg, der von unseremn Leuten getragen wurde. Mit einem Bebet und manchmal mit einer Rede senkten wir die Toten in die Erde.
Am 5. März starb Stalin. Mit Bangen sah ich der nächsten Zeit entgegen. Es war echte Volkstrauer, die wir erlebten, oder besser zu erleben glaubten.
So kam der Sommer 1953 heran, als plötzlich über Nacht ein neuer Transport angekündigt wurde. Etwa 100 Ingenieure mit ihren Familien kamen fort, keiner wusste, ob nach Hause oder woanders hin. Nach Wochen wurde bekannt, dass ein Teil von ihnen über Ostaschkow auf eine Insel im Seligersee und durch Männer von Peenemünde und Zeiß besetzt, gebracht worden waren.
Es war Sonntag, ich hatte den ganzen freien Tag vor mir. Um 9 Uhr vormittags kam Herr Pohl zu mir und bat mich, sofort mit ihm ins Werk zu kommen, wo Kusnezow schon warte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Im Konferenzsaal war alles versammelt, was es an Natschalniks im Werk gab. Bleich und betroffen teilte mir Kusnezow mit, dass wir nach Sawjolowo, 100 km nördlich von Moskau, verlagert würden, dass aber die Frauen mit den Kindern in einem Sondertransport bereits nach Hause könnten.
Da war es wieder, jenes Prinzip, den „Häftling" bis zur letzten Minute in optimistischer Unklarheit zu lassen, um ihn dann mit einer plötzlichen Entscheidung, so KO zu schlagen, dass man leichtes Spiel mit ihm hatte.
Die Erregung im Kollektiv war ungeheuer. Die Erfüllung eines jahrelang von mir geforderten Wunsches, die Frauen und Kinder nach Hause zu lassen, wurde hintergründig ausgelegt. Vielfach bekam ich Vorwürfe. Ich sei schuld, dass man die Familien trennte. Dabei stand jedem frei, seine Famili zunehmen oder nach Hause zu schicken.


Die »152« hob zweimal ab und landete nur einmal

Vor 50 Jahren startete der erste deutsche Passagierjet – das Prestige-Projekt der DDR wurde von der Sowjetunion gestoppt.
Am 4. Dezember 1958 schien es so, als würde sich in der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik die Idee vom Überholen ohne Einzuholen erfüllen. Auf hoher Ebene sogar. In Dresden startete die »152«, Deutschlands erstes Düsenpassagierflugzeug. Der Traum der Überlegenheit war kurz.  Die Erprobung lief in großer Hast. Erfolge mussten her.
Wenn jene, die dabei waren, vom 4. Dezember 1958 berichten, werden ihre Augen feucht. Gegen elf Uhr stand das silberglänzende Flugzeug auf der Startbahn. Die Besatzung – Willi Lehmann, Kurt Bemme und Paul Heerling – wartete auf die Startfreigabe. Gerade war eine Aero 45 vom Wetterflug gekommen, die Bedingungen waren ideal. Freie Sicht, kein Schnee, nur mäßige Winde. Um 11.18 Uhr heulten die vier Triebwerke auf, die »152« V1 wurde schneller, noch schneller, die verglaste Nase hob sich, das Flugzeug löste sich von der Erde. Der Anstellwinkel war gering, man tastete sich vorsichtig ins Neuland vor.
Die Maschine stieg auf 1500 Meter, das Fahrwerk blieb ausgefahren, die Geschwindigkeit gedrosselt. Nach einer ganz weiten Runde bei Dresden überflog Kommandant Lehmann den Platz. Vor den neu gebauten Produktionshallen brach Jubel aus. Geschafft! Der sozialistische Aufbau schien Flügel bekommen zu haben. Doch die wurden rasch gestutzt. Durch eigenes Unvermögen und die Hilfe der »Freunde«.
Letztlich begonnen hatte das Abenteuer schon im Krieg, als bei Junkers in Dessau immer neue Werkzeuge für Hitler-Deutschlands Eroberungsziele konstruiert und gebaut wurden. Junkers Düsentriebwerke verbunden mit fortschrittlichster Aerodynamik sollten den »Endsieg« erringen helfen. Daraus wurde glücklicherweise nichts. Statt in Dessau konstruierten Junkers-Leute in den kommenden Jahren Militärflugzeuge in der Sowjetunion und wiesen eine ganze Generation sowjetischer Konstrukteure in die Geheimnisse deutscher Ingenieurkunst ein. 
Schließlich wollte auch das ND anhand des Flugzeuges von »den Leistungen der Arbeiter, Bauern und Geistesschaffenden« berichten.
Zu den Lehrern im fast goldenen Käfig gehörte Fritz Baade. Sein »Dessauer Kollektiv« konstruierte im Auftrag der sowjetischen Verteidigungsindustrie unter anderem den Bomber EF-150. Und was Bomben transportieren konnte, kann auch – wenn man den Rumpf etwas ziviler gestaltet – Passagiere in friedlicher Absicht transportieren. Und so vereinbarte man zur Rückkehr der Deutschen quasi per Handschlag, dass die junge DDR das sozialistische Lager – zumindest aber die Sowjetunion – mit Mittelstrecken-Düsenpassagierflugzeugen und anderen ausstatten wird. Blauäugig, doch mit viel Enthusiasmus ging man ans Werk, stampfte einen völlig neuen Industriezweig aus der Erde. Rund ein Zehntel des Investitionshaushaltes steckte man in das Projekt: rund 3 Milliarden Mark.
Doch die Träume verflogen rasch. Die »Freunde« hatten plötzlich andere Interessen. Die Fachleute fühlten sich betrogen – ein Gefühl, das sich zu RGW-Zeiten fest in DDR-Planungsbehörden einnisten sollte. Und Parteichef Ulbricht? Der wagte einen letzten Versuch, wollte die Maschine über der Leipziger Frühjahrsmesse präsentieren. So dass sein Gast, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, der sowjetische Staats- und Parteichef, beeindruckt sein musste. Doch die »152« kam nicht bis Leipzig. Wohl startete sie am 4. März um 12.55 Uhr in Dresden-Klotsche, doch 55 Minuten später bohrte sich das Flugzeug in den Boden. Die Besatzung kam ums Leben. Es gab viele Gerüchte um die Unglücksursache, auch von Sabotage durch den Westen war die Rede. Die wahrscheinlichste Ursache ist jedoch ein unzureichendes Kraftstoffsystem.
Das hatte irgendwie auch etwas Symbolisches. Immerhin hing die DDR stets am Tropf der Sowjetunion. Und wenn die den Hahn zudrehte ... starb in dem Fall ein so hoffnungsträchtiger Industriezweig wie der des DDR-Flugzeugbaus. Fortan sollten sich die deutschen Genossen mehr um Chemie kümmern, hieß es aus Moskau. Auch eine Idee, die letztlich – sogar im Wortsinn – zum Himmel stank.

Von René Heilig

URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/140065.die-152-hob-zweimal-ab-und-landete-nur-einmal.html

 


 

 

                                             Helmut Banas

                                   *   02.09.1912    + 06.08.2013

 Fast 101-jährig ist einer der letzten Junkers-Triebwerksspezialisten am 06.August 2013 verstorben.
 

Herr Banas hat uns Upra-Kinder seit 1992 auf allen Treffen begleitet und unsere Erinnerungen an die gemeinsam an der Wolga verbrachten Jahre durch Wort und Bild bereichert.

 Wir Upra-Kinder gedenken seiner in Dankbarkeit.

 Upra-Gruppe


Gerhard Haida 

So erlebte der Autor des Buches „Moskau, Algier und noch weiter…“ den Tag, an dem er als 9-Jähriger mit seiner Familie abgeholt wurde:

 

„Dann kam der 22. Oktober 1946, der Tag, der sich für immer in sein Erinnerungsvermögen grub, weil er das Leben der Familie Haida auf radikalste Weise verändern sollte. Er begann für  sie früh um 4 Uhr mit pausenlosen Klingeln und einigen heftigen Kolbenschlägen an der Wohnungstür. Als Vater sie öffnete, drängten zwei russische Soldaten mit einem Offizier an der Spitze in die Wohnung. Während die Soldaten an der Flurtür stehen blieben, breitbeinig und die Kalaschnikows quer über die Brust haltend, ließ sich der Offizier am Küchentisch nieder, um Vater aufzufordern, ein Schriftstück zu lesen und zu unterschreiben. Da der überrumpelte und verschreckte Vater seine Brille nicht finden konnte, trug der Offizier ihm in durchaus verständlichem Deutsch seinen Inhalt vor. Der lief darauf hinaus, dass sich Herr Haida, wohnhaft allhier, im Flugzeug- und Motorenwerk der Stadt als hoch qualifizierter Dreher, Fräser und Schlosser tätig, sich freiwillig verpflichtet, am Wiederaufbau der Sowjetunion teilzunehmen und zu diesem Zwecke seinen Wohnort dorthin zu verlegen. Er könne dies alleine, erklärte abschließend der Offizier, aber auch in Begleitung seiner ganzen Familie tun. Diese Entscheidung sei seine Persönliche und eine ganz Freiwillige obendrein.

Nachdem Vater seine Unterschrift abgeliefert hatte – was blieb ihm angesichts des Kräfteverhältnisses in der Wohnung auch übrig – verabschiedete sich der Offizier mit der Erklärung, dass gegen 10 Uhr genügend Kraftwagen vor dem Hause stehen werden, die gesamte Habe der Familie Haida aufzuladen, um sie zu dem auf dem städtischen Hauptbahnhof wartenden Eisenbahnzug zu transportieren.

Der Offizier verließ die Wohnung in Begleitung eines der beiden Soldaten, während sich der Zurückgebliebene in der bereits beschriebenen Weise vor der Wohnungstür aufbaute, keinen Zweifel daran lassend, dass niemand der Anwesenden ohne ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten hier hinausgelangen könne.

Vater, dem der Schreck in den Darm geschossen war, eilte auf die Toilette, um dort über Gebühr zu verweilen, einerseits der drängenden Notdurft wegen, andererseits dem Wunsche folgend, die Lage, in die er, nein, in die sie da geraten waren, auf dem Örtchen ungestört zu überdenken.

Da dies in der für diese Art von Leibesübungen gebotenen Stille erfolgte, wurde der Soldat an der Wohnungstür unruhig. Immer wieder schielte er auf die Toilettentür, in dessen Milchglasscheibe zwar ein Licht schimmerte, von dem Manne, der dahinter verschwunden war, aber schon zu lange nichts mehr zu sehen oder zu hören war.

Mutter befreite schließlich den nervösen Soldaten aus seiner Zwangslage, wartete sie doch selbst begierig darauf zu erfahren, zu welchem Zwecke das russische Militär zu so früher Stunde in ihre Wohnung eingerückt war. Und wie das Ergebnis der so ohne größeren Austausch von Argumenten geführten Unterhaltung mit dem Offizier ausgefallen sei, obwohl, wie sie hinterher immer wieder betonte, ihr so was schon „geschwant“ habe. Also klopfte sie ungeduldig an der Toilettentür und forderte ihren Mann im lauten Tone auf, sich endlich wieder sehen zu lassen.

Der danach folgende kurze Gedankenaustausch der Ehegatten machte einen dicken Strich durch das auf dem Örtchen ausgebrütete Vorhaben einer Alleinfahrt Vaters nach Rußland, und so kam es, dass Familie Haida noch am gleichen Tage ihre Wohnung bis auf den letzten Lappen ausräumte und neues Quartier in einem für sie reserviertem Abteil des bereitgestellten Zuges nahm.

Zwei Tage später überquerte dieser Zug, bestehend aus einer Reihe Personenwagen mit mehreren hundert Schicksalsgenossen aus dem Flugzeug- und Motorenwerk der Stadt Dessau und einer Anzahl Güterwaggons mit dem gesamten beweglichen Eigentum seiner Insassen die Oderbrücke bei Frankfurt. Um nach einer neuntägigen Fahrt an einem kalten und schneereichen Tag an der Bahnstation eines kleinen Örtchens namens ´Uprawlentscheski´ nahe der Stadt Kuibischew oberhalb der Wolga sein Ziel zu erreichen.

Sie blieben sieben lange Jahre.

Während die Kinder eine speziell für sie geschaffene 10-Klassenschule besuchten, richteten ihre Väter eine leer stehende Fabrik mit den Maschinen und technischen Anlagen aus dem Dessauer Werk ein, um hier über die Jahre das modernste und stärkste Strahltriebwerk der damaligen Zeit zu konstruieren, zu erproben und in Serienreife zu überführen.

 

 Erst als Stalin gestorben war, durften sie am Ende des Jahres 1953 in die Heimat zurück.“